Lazzaro felice (Glücklich wie Lazzaro) von Alice Rohrwacher. Italien/Schweiz/ Frankreich/BRD, 2018. Adriano Tardiolo, Alba Rohrwacher, Luca Chikovani, Tommaso Ragno, Natalino Balasso, Sergi Lopez, Nicoletta Braschi

   Tja, eigentlich bin ich mir schon sicher, dass dies ein ganz fabelhafter und auf jeden Fall enorm ungewöhnlicher Film ist, leider muss ich aber auch zugeben, dass es mir momentan kaum möglich ist, bis viertel vor elf nachts hellwach und jederzeit aufmerksam zu bleiben, und da dies alles andere als ein lauter Film ist, fehlten mir halt zwischendrin die Hallo-wach-Momente. Was dem Film an sich natürlich nicht anzulasten ist…

   Der dritte ist das schon, den ich von Rohrwacher gesehen habe, und ich muss sagen, dass sie sich bemerkenswert treu geblieben ist, ihren ganz eigenen Stil total konsequent durchgehalten hat, Merkwürdige, sperrigem, vieldeutige Geschichten aus einem merkwürdigen Paralleluniversum, das bevölkert wird von merkwürdigen Leuten. So war’s in „Land der Wunder“, so war‘s schon in ihrem Spielfilmdebut „Corpo celeste“, und so ist es in besonderem Maße und durchaus noch mal gesteigert in „Lazzaro felice“, einem echten Unikat, das sich ebenso schwer beschreiben wie einsortieren lässt. Ein bisschen Fellini ohne laut und schrill gottseidank, ein bisschen Garcia Marquez, was den berüchtigten magischen Realismus angeht, ein bisschen Märchen, ein bisschen Passionsgeschichte, ein bisschen Sozialsatire, eine Geschichte, die buchstäblich aus der Zeit und durch die Zeit fällt, mal heiter, mal traurig und mal ein bisschen böse.

   Wir lernen eine ländliche Gesellschaft kennen, die ebensogut aus einem längst vergangenen Jahrhundert stammen könnte: Die Familien leben in großen Gruppen in kärglichen Unterkünften, drei bis fünf Menschen teilen sich ein Schlafzimmer, die tägliche Arbeit auf den Feldern ist hart, der Ertrag gering, und oft geschieht es, dass sie nicht mal ihre Schulden bezahlen können. Schulden machen sie bei den Großgrundbesitzern, deren Leibeigenen sie sind. Die Marquesa Alfonsina de Luna besitzt alle Ländereien, und von ihrem Wohlwollen sind ihre untergebenen total abhängig. Ihr Verwalter und Geldeintreiber kommt immer mal rüber und zieht seine Guter-Onkel-Böser-Onkel-Nummer ab, und insgesamt sieht es überhaupt nicht so aus, als würden sich diese elenden Verhältnisse jemals ändern können. Verändern könnte sich nur, wer die Familie verlässt, und das traut sich doch niemand zu. Glücklich scheint allein Lazzaro zu sein, ein großer Junge mit blankem Gesicht und staunenden Augen, ein unermüdlicher Arbeiter, der stets und ständig von allen Seiten mit Aufträgen bombardiert wird und jeden einzelnen gewissenhaft und mit niemals versiegender Freude ausführt. Ganz zufällig trifft er auf Tancredi, den dekadenten Sohn der Marquesa, der an dem einfältigen Kerl irgendwie gefallen findet, ihn in seinen Müßiggang zu involvieren versucht und ihn schließlich dazu anstiftet, eine Entführung vorzutäuschen, um von der Mama Geld erpressen zu können.  Das Ganze geht aber schief, Lazzaro stürzt eine hohe Klippe herab, ein geheimnisvoller Wolf, der von nun an sein Begleiter bleiben wird, umstreicht ihn, und dann sind plötzlich viele Jahre vergangen und alles hat sich zwischenzeitlich verändert: Die Banken haben das Vermögen der de Lunas kassiert, der Adel ist plötzlich verarmt, auch die Familien haben das Anwesen verlassen und hausen nun in der Stadt unter genauso erbarmungswürdigen Verhältnissen wie zuvor. Noch immer aber halten sie das Ansehen der Marquesa hoch, und Lazzaro geht sogar in die Bank, mit einer Schleuder bewaffnet, und bittet entgeisterten Angestellten, der Familie de Luna doch bitte das Geld zurückzugeben. Er wird überwältigt und bös verdroschen, doch später hat der sein Lächeln und sein staunendes Gesicht wieder, und anders als alle anderen ist er äußerlich um keinen Deut gealtert.

   „Darüber müssen wir jetzt aber nochmal reden…“ riefen die anderen beiden Kinogänger uns beim Rausgehen in die laue Bielefelder Septembernacht nach, und in der Tat ist es natürlich alles andere als simpel, dieser vertrackten, lücken- und sprunghaften Geschichte irgendeine sichere Interpretation abzuringen. Liegt ja auch manchmal der Reiz darin, nicht alles fertig vorgekaut zu kriegen und noch ein bisschen zu grübeln, was zur Hölle uns die Filmemacherin sagen wollte. Eine Art Märchen zwischen Archaik und Moderne, die Geschichte eines großen Kindes, die Verkörperung totaler Friedfertigkeit und Freundlichkeit, die Geschichte einer Familie, die fast schon als Nomaden am Rand der großen Stadt hausen und sich deutliche Reste ihrer ursprünglichen Lebensform erhalten haben, die Geschichte einer alten Adelsfamilie, die sich noch immer eigene Bauern halten, sie ganz selbstverständlich erziehen und maßregeln, ganz im Stile mittelalterlicher Feudalherren. Und sicher noch einiges mehr. Manche Motive erscheinen klar erkennbar und abgegrenzt, anderes wiederum bleibt ominös, der Wolf beispielsweise, möglicherweise als Symbol der alten Wildheit und Freiheit, dann der plötzliche Zeitsprung, den einzig Lazzaro ohne sichtbare Spuren übersteht. So entzieht sich dieser Film einer klaren Ein- und Zuordnung, entzieht sich teilweise auch unseren modernen Normen und Zugriffen, trifft teilweise durchaus sehr klare Statements, die absolut unmissverständlich auf die Jetzt-Zeit zu münzen sind, um dann wiederum in fast entrückte Poesie abzuschweifen, vor allem, wenn es um den rätselhaft verwunschenen Lazzaro geht, den guten Geist der ganzen Gemeinschaft, den wunderlichen Außenseiter, der zugleich von allen respektiert wird, den manchmal eine Aura trifft, die ihn in Bewegungslosigkeit verharren lässt und der eigentlich auf keinen Fall für diese Welt geeignet scheint.

 

   Alice Rohrwacher und ihre Kamerafrau Hélène Louvart finden dafür betörende Bilder, ähnlich entrückt und traumverloren wie Lazzaro selbst, in der zweiten Hälfte dann deutlich trister, ohne aber den Sinn für das Einzigartige der ehemaligen Landarbeiterkommune zu verlieren. Wie gesagt, ein Film, der sich nicht an gängigen Maßstäben messen lässt, so wie die Vorgänger Rohrwachers au schon, und wenn er halt nicht so elend spät gelaufen wäre, hätte ich ihn todsicher noch viel mehr genießen können. Jedenfalls bin ich sehr gespannt, wohin Rohrwachers Weg noch führt, in der Hoffnung natürlich, dass sie ihre Identität erhalten und weiterhin Unterstützung für ihre Projekte finden kann, denn Filmemacherinnen wie sie sind wahrlich rar und kostbar. (19.9.)