Goodbye Christopher Robin von Simon Curtis. England, 2017. Domhnall Gleeson, Margot Robbie, Will Tilston, Kelly Macdonald, Alex Lawther, Stephen Campbell Moore

   Doofer Film! Nie wieder werde ich “Puh der Bär”, dieses magische, traum- und zeitverlorene Wunderwerk lesen können, ohne an die Geschichte zu denken, die dahintersteckt und die sich natürlich niemals offenbaren würde, wenn man allein die beiden Bücher kennt. Wer würde schon auf den Gedanken kommen, dass jener legendäre Christopher Robin in Wirklichkeit ganz schön gelitten und als erwachsener Mensch die weltberühmten Romane seines Vaters zutiefst gehasst und verflucht hat? Und warum um Himmels Willen hätte er das überhaupt tun sollen? Dieser Film gibt eine ziemlich deutliche Antwort darauf.

   Alan Alexander Milne kehrt als erschütterter, traumatisierter Mann aus dem Horror des Ersten  Weltkriegs nach Hause zurück, so wie viele andere, und wie viele andere hat er es sehr schwer, wieder Anschluss zu finden an das ganz normale Leben. Seine mondäne, lebenslustige Gattin Daphne scheint nur begrenzt hilfreich zu sein, denn sie ist vorrangig an den Vergnügungen der Londoner High Society  interessiert. Milne, einst ein renommierter Westend-Theaterautor, will unbedingt ein Pamphlet gegen den Wahnsinn des Krieges verfassen, und als sein Sohn Christopher Robin geboren wird, lässt er sich ebenso ungern in seiner täglichen Routine stören wie die Gattin, und so wird alsbald Olive („Nou“ genannt) als Nanny engagiert, die sich fortan acht Jahre lang um den Jungen kümmert, der nach dem Willen seiner Mutter viel eher ein Mädchen hätte sein sollen (weshalb sie ihn mit Vorliebe in Mädchenkleidern herumlaufen lässt) und der von seinen Eltern mehr oder weniger allein gelassen wird. Als Mama einmal mehr für längere Zeit nach London ausreißt, um feiern zu gehen, und Olive zu ihrer kranken Mutter fährt, sind Vater und Sohn auf einmal allein miteinander, und was für den Vater zunächst höchst unwillkommen und lästig und merkwürdig erscheint, wird zu einer überraschend intensiven, innigen, fast liebevollen gemeinsamen Zeit, der einzigen in dieser Art, die sie jemals miteinander haben werden. In der ländlichen Idylle ihres abgelegenen Wohnhauses in East Sussex erkunden die beiden Wälder und Felder, lassen ihrer Fantasie freien Lauf, und plötzlich fügt sich eins ins andere, besonders beflügelt von der unbefangenen Einbildungskraft des Jungen. Da ist ein Stoffbär, da ist das Ferkel, da sind der Tiger und der Esel, später kommt Känga hinzu, und abends sinnieren Vater und Sohn noch eine Eule herbei, die lautlos im Wald auf Jagd geht. Der Bär kriegt schrittweise seinen Namen, zunächst die eine Hälfte vom Bären im Londoner Zoo, einem Import aus Winnipeg, und später dann die andere Hälfte von einem Lockruf für einen Schwan. Milne holt schließlich seinen langjährigen Freund und Zeichner E.H. Shepard raus aufs Land, die ersten Entwürfe entstehen, die Geschichten nehmen Formen an, und als das erste von zwei Büchern erscheint, werden alle Beteiligten vom Erfolg schier überrollt. Vor allem aber Christopher Robin, der von einem öffentlichen Termin zum nächsten geschubst wird, emsig angefeuert von der ruhmsüchtigen Mama, zweifelnd aber letztlich tatenlos betrachtet vom zaudernden Papa, vergeblich beschützt von der kämpferischen Olive, der schließlich nichts übrig bleibt, als das Feld zu räumen. Christopher kommt ins Internat, wird heftig gemobbt ob seiner Identität, und als er heranwächst ist er bereits entschlossen, sich von dem Fluch dieser Bücher zu distanzieren, Er will wie sein Vater Uniform tragen und in den Krieg ziehen (wie praktisch, das gerade wieder einer im Gange war…), und er tut es, nicht ohne seinem Vater eine bittere Abschiedsszene am Bahnhof zu machen. Er wird als vermisst und vermeintlich tot gemeldet, kommt dennoch wieder heim, wird von seinen Eltern mit grauenvoll britischer Distanziertheit begrüßt, einzig von Olive herzlich in die Arme geschlossen. Am Ende schauen Vater und Sohn über die friedliche Parklandschaft, nun also zwei Kriegsveteranen, jeder mit seinen Erinnerungen beschäftigt.

   Simon Curtis hat dies höchst konventionell inszeniert mit schönen Bildern und schöner Musik und viel Gefühl und manchmal auch reichlich gefühlig, und natürlich hätte man das auch anders, weniger glatt und gefällig machen können, gar keine Frage. Dass mich der Film dennoch gerührt und bewegt hat, liegt zum einen an den wirklich starken Darstellern und zum anderen daran, dass Drehbuch und Regie es überraschend gut fertigbringen, einige recht komplexe Themen überzeugend unter einen Hut zu kriegen, ohne dass die Story total in ihre Einzelteile zerfällt. Allein das Ehepaar Milne/de Sélincourt verkörpert zwei prägende Erscheinungen der späten 10er und frühen 20er Jahre: Die Traumatisierten des Krieges und die maßlos Spaßhungrigen, die das Trauma einfach wegtanzen wollten. Aus dem Bonvivant, dem beliebten Mitglied der Londoner Kulturschickeria wird ein grübelnder, von schockartigen Erinnerungsmomenten gepeinigter Mann, der den Trubel zunehmend meidet und sich aufs Land zurückzieht, sehr zum Missfallen der Gattin, die mit alldem pragmatischer und vor allem egoistischer umzugehen pflegt. Christopher Robin scheint mitten in diesen Graben zwischen seinen Eltern hineinzufallen, und ohne Olives Liebe wäre der junge fraglos vor die Hunde gegangen, denn weder Vater noch Mutter sind imstande, ihm zu geben, was er eigentlich braucht. Diese dysfunktionale Familie erhält dann eine ganz neue Dynamik, als die Bücher erscheinen und alle mitgerissen werden vom Rausch des Ruhms und Erfolgs, und wieder ist es der Junge, der vornehmlich die Zeche zahlen muss. Immer wieder gelingen kleine, aber sehr einprägsame und ausdrucksstarke Momente zwischen Einsamkeit, Hoffnung und der nimmermüden Kraft der Fantasie, die den Jungen trotz allem auszeichnet. Der fast erwachsene Christopher kommt für meinen Geschmack ein wenig zu kurz, und der ist natürlich deutlich weniger knuddelig und süß, eher sperrig und verbittert. Wie hilflos der Vater ihm auch nach Rückkehr als Totgeglaubtem gegenübersteht und wie distanziert die Mutter, das wird schon stark gespielt und trifft ins Herz. So geht‘s mir eigentlich über weite Strecken und trotz der erwähnt einfallslosen Bilderbuchästhetik, die auch mit der liebenswürdig schrägen Welt der Bücher gar nicht mal so viel zu tun hat.

 

   Ein britischer Literaturfilm also mit mehr Substanz, als man es rein äußerlich vermuten würde, ein Drama, das mir durchaus nahe gegangen ist, und wie gesagt, die unschuldige, schiere Freude an „Pu der Bär“ ist ein für allemal dahin. Vielen Dank auch… (12.6.)