So ähnlich wie Grace Jones weiter oben war Anne Clark in meiner privaten Landschaft eigentlich immer nur Teil der unsäglichen 80er, nur ungefähr am anderen Ende des Spektrums. Hat aber auch nicht geholfen, denn ich hab nur ihren kalt-monotonen Sprechgesang und die kalt-monotonen Synthiklänge wahrgenommen und war schon bedient. Und dann auch noch ewig „Sleeper in Metropolis“ inner Disco, nee danke. Na gut, man wird älter, urteilt etwas differenzierter und vor allem aus gemessenem Abstand, und auf einmal klingt die Musik der Dame doch nicht sooo übel. Siehe weiter oben…
Grund genug, sich eine weitere Musikdoku reinzuziehen, und siehe da, es geht auch anders und vor allem viel besser, kurzweiliger und einsichtsreicher. Claus Withopf hatte wohl auch nicht vor, das Pulver neu zu erfinden, er hat sich ebenfalls mehrere Jahre lang an die Fersen Anne Clarks geheftet, hat ausführliche Interviews mit ihr geführt und dann ganz einfach einen Film montiert aus Interviewteilen, Konzertaufnahmen und Szenen einer bruchstückhaften Spurensuche, die Anne Clark für uns nachvollzieht. Es geht zurück nach London, nach Croydon, wo sie geboren wurde, damals strictly working class, was eine Zukunft als Künstlerin eigentlich schon ausschloss. Die Mama katholische Irin, der Papa protestantischer Schotte, und so gab‘s reichlich Zündstoff für heftige Familienszenen, und vor allem die erratische, gewalttätige und wohl psychisch auch nicht ganz gesunde Mutter hat deutliche Spuren in Anne Clarks Lyrik hinterlassen. Als Teenie kämpft sie sich frei, bekommt Kontakt zu Punk und New Wave, und die allgemeine Öffnung und Befreiung der Kulturszene hilft ihr Ende der 70er in die Steigbügel. Ein weiterer Exkurs führt uns in die Ruinen einer riesigen viktorianischen Nervenheilanstalt, in der Anne Clark einst arbeitet, und der Kontakt zu den Patienten dort bildet elementaren einen weiteren Baustein in ihrer künstlerischen Entwicklung, vor allem ihrer Menschensicht. Dann der Job in einem angesagten Plattenladen in London, der plötzliche große Erfolg, der ungesunde Hype, der mehrjährige Rückzug in die Stille nach Norwegen und schließlich der Neuanfang als besonnenerer, gereifter Mensch. Dann sehen wir sie mit ihrer festen Band bei Proben und im Studio und hören vor allem immer wieder, was sie bewegt, was sie beeinflusst, was sie als Künstlerin anstrebt. Und gerade das ist es, was ich in einem Dokumentarfilm erfahren möchte, und gerade das ist der Grund, weshalb mir dieser Film um so vieles besser gefällt als der über Grace Jones. Anne Clark erzählt über ihre Liebe zu Rilke und den japanischen Haikus, ihre Faszination für die Klarheit und Einfachheit der Sprache, erzählt über ihre Sexualität, die offenbar nach allen Seiten offen ist, über Liebe und den Mangel an Toleranz in der britischen Gesellschaft (für die sie eh keine sonderliche Sympathie zu hegen scheint, und umgekehrt wohl auch nicht) und über ihre Vorstellungen von Musik und Poesie.
Mir ist durchaus bewusst, dass es noch sehr viel mehr Dinge gibt, die den Menschen Anne Clark ausmachen, doch die Künstlerin Anne Clark (der mit dem Menschen in diesem Fall sehr eng verwandt ist) scheint mir auf diese Weise schon mal recht gut und umfassend porträtiert zu werden. Ebenso ist mir klar, dass auch Anne Clark, genau wie beispielsweise Grace Jones weiter oben, nur das preisgibt, was sie auch preisgeben möchte, aber das ist auf jeden Fall sehr viel mehr, sie wirkt offenherziger, gradliniger als die prätentiöse alte Dame des Neuen Soul. Sie macht dem Gesprächspartner klar, dass es ihr nicht leicht fällt, über gewisse Themen zu sprechen, hauptsächlich die Familie betreffend natürlich, aber sie tut’s dann trotzdem, vielleicht nicht übermäßig ausführlich, aber auf jeden Fall so, dass ich mir ein Bild von dem machen kann., was sie prägte und wovor sie auch floh. Niemand verlangt, dass eine Künstlerin ihr Innerstes nach außen kehrt, aber ohne eine gewisse Bereitschaft und Offenheit ist solch ein Film einfach sinnlos, und für meinen Geschmack haben Clark und Withopf hier eine sehr überzeugende Übereinkunft getroffen. Withopf tritt als Fragesteller völlig in den Hintergrund, taucht überhaupt nicht auf, wir sehen also nur Anne Clark in angenehm langen, ruhig geschnittenen Interviewszenen (auch hier kein MTV-Geschnipsel, keine vierhundert unterschiedliche Gesprächspartner), nur dass in diesem Fall auch richtig was dabei rüberkommt, weil Ane Clark sich eben nicht scheut, auch privatere Dinge zu äußern und dafür einzustehen. Ich lerne sie einfach etwas besser kennen, zumindest habe ich das Gefühl, und das reicht ja auch schon, denn dass ich sie nicht wirklich kennenlernen kann durch einen einzigen kurzen Film, tja, das ist mir ooch klar.
Dies ist also mal ein Beispiel für einen sehr gelungenen, einfühlsamen und informativen Dokumentarfilm, der trotzdem nicht gleich den Gesetzen des Marktes huldigt, sondern der ganz gelassen und konsequent sein eigenes Ding macht und vor allem die Künstlerin selbst gebührend zu Wort kommen lässt. So soll es auch sein. Und jetzt werd ich mir doch mal ein paar Platten von ihr zu Gemüte führen - wozu gibt’s denn schließlich youtube... (7.2.)