The children act (Kindeswohl) von Richard Eyre. England, 2018. Emma Thompson, Stanley Tucci, Fionn Whitehead, Anthony Calf, Jason Watkins, Ben Chaplin, Eileen Walsh, Dominic Carter

   Bleibe ich zuerst mal an der Oberfläche: Dies ist ein edel gespieltes, edel fotografiertes, edel geschriebenes und inszeniertes Drama in edlem Rahmen, in dem offenbar einige sehr fundamentale menschliche Themen verhandelt werden. Sollen. Oder doch werden? Gerade in dieser Frage bin ich mir eine knappe Stunde später noch immer nicht schlüssig, wie auch während der gesamten einhundert Minuten nicht, und ich weiß ebenfalls nicht, ob dies Absicht ist oder nur Versäumnis. Ian McEwan, der momentan offensichtlich schwer angesagt ist bei den Leuten vom Film, hat einen weiteren seiner Romane für die Leinwand adaptiert, wie auch früher im Jahr bereits „On Chesil Beach“, und wieder hat er dies sicherlich überaus werkgetreu getan, ohne die Prinzipien und Gesetze des Kinos zu strapazieren. Und Richard Eyre hat daraus einen wohltemperiert britischen Literaturfilm gemacht, gediegen und stimmungsvoll herbstlich gestaltet, geschmackvoll und gekonnt und vor allem mit gebührendem Raum für die zweifellos hervorragenden Akteure, aus denen Emma Thompson natürlich weit hervorragt, allein schon, weil ihre Rolle die gesamte Geschichte zu tragen hat, und sie einmal mehr mit Bravour und Brillanz und Geist glänzen kann. Nur ob all dies für einen wirklich guten Film gereicht hat, da bin ich mir noch nicht ganz sicher.

   The Honourable Mrs. Justice Fiona Maye, eine hoch angesehene Richterin am Londoner High Court of Justice, ist es gewohnt, klare und kühl abgewogene Urteile in heiklen, oft schicksalsträchtigen und dramatischen Fällen zu sprechen. Ebenso ist sie daran gewöhnt, von Teilen der Öffentlichkeit angefeindet zu werden, besonders gern von religiösen Gruppen, die sie mit ihren strikt weltlich geprägten und am Gesetz der Vernunft orientierten Entscheidungen vor den Kopf stößt. Auch diesmal begibt sie sich auf schwieriges Terrain: Ein junger Mann, noch nicht ganz volljährig, ist an Leukämie erkrankt und benötigt für eine erfolgversprechende Therapie unbedingt eine Bluttransfusion. Problem: Seine Eltern und er gehören den Zeugen Jehovas an, die eine solche Blutspende strikt ablehnen. Die Eltern betonen, Adam selbst habe diese Entscheidung getroffen und sei sich ihrer Reichweite voll bewusst. Fiona besucht ihn entgegen sonstiger Gepflogenheiten im Hospital, und die beiden sind offenbar spontan beeindruckt voneinander. Ihre Entscheidung lautet zugunsten des Eingriffs, der Adam das Leben rettet. Er heftet sich an ihre Fersen schreibt Briefe, trifft sie immer wieder, will mit ihr sprechen, über das Leben und die Kunst diskutieren, sie jedoch hält ihn auf Abstand, gibt sich professionell und distanziert, macht ihm klar, dass er nun sein Leben selbst in die Hand nehmen muss. Er löst sich von seinen Eltern und ihrem Glauben und folgt ihr auf eine Dienstreise nach Newcastle, bedrängt sie verzweifelt, ihn bei sich aufzunehmen, damit er ihr nahe sein kann. Sie schickt ihn wiederum unnachgiebig fort, doch bei der Verabschiedung kommt es zu einem Kuss, den sie nicht wollte, der sie aber dennoch nicht unberührt lässt. Kurze Zeit später erfährt sie, dass Adam wieder erkrankt ist und diesmal eine Behandlung ablehnt. Sie besucht ihn im Hospiz, will ihn umstimmen, doch er stirbt kurz darauf. Parallel zu dieser Geschichte durchlebt Fiona eine Ehekrise, weil ihr Mann Jack, frustriert von jahrelanger Entfremdung, ankündigt, eine Affäre haben zu wollen und das gemeinsame Haus tatsächlich für einige Tage verlässt. Als er wieder zu ihr zurückkehrt, scheint es, als würden sich die beiden langsam wieder einander annähern, zumal Jack treu zu ihr hält, als es mit Adam schwierig wird.

   Zwei Ebenen also – die private und die beruflich bzw. ethische. Die private ist schnell abgehakt, ein Workaholic und der sich beschwerende, vernachlässigte Partner, nur dass diesmal vielleicht die Geschlechter vertauscht sind, und der Mann als unzufriedene, nörgelnde Ehegattin dasteht. Seine angekündigte Affäre ist offenbar nur ein Manöver, um sie wachzurütteln, doch irgendwie passiert gar nichts, Sie kontaktiert einen Anwalt, tauscht die Schlösser aus und droht mit Scheidung. Kein einziges Gespräch über ihre Beziehung, kein Streit, kein Kampf, sie bleibt stumm und kalt wie ein Fisch, nur irgendwann kriegt sie nachts eine sentimentale, nostalgische Anwandlung und träumt von besseren alten Zeiten. Keine sehr tiefgründige oder spannende Behandlung des Themas Ehekrise, sollte man meinen. Was ihr noch an ihm liegt, bleibt ebenso nebulös wie die Gründe für die finale Versöhnung, und während sie stumm und steinern reagiert, wie sonst eigentlich nur ein Mann, ist Jack von geradezu überwältigendem Edelmut, geduldig, zivilisiert, selbst in seinem Zorn niemals laut oder gemein. Schön mitanzusehen, wie die Upper Class ihre Beziehungskonflikte regelt…

   Die ethische Seite der Medaille ist naturgemäß spannender, oder sollte es zumindest sein. Wie weit darf der Einfluss einer Religion gehen, darf sie am Ende über Leben und Tod entscheiden, oder darf sich das Gesetz das letzte Wort in dieser Frage zubilligen und das Kindeswohl, das Leben über die sogenannte Würde, in diesem Fall das Recht auf freie Glaubensausübung, stellen. Welche Werte müssen hier verhandelt, gegeneinander abgewogen werden und welche Konsequenzen kann eine Entscheidung haben. Fast scheint es in diesem Fall, als habe die Richterin mit ihrem Urteilsspruch eine Art Verantwortung für Adam und sein Leben übernommen, denn indem Adam sie so hartnäckig stalkt, will er diese Verantwortung einfordern. Vielleicht steckt auch nur eine Liebesgeschichte dahinter, doch hatte ich schon den Eindruck, als habe McEwan mehr als das im Sinn gehabt. Diese Ambivalenz, die den gesamten Film begleitet, habe ich zugleich als Stärke und Schwäche empfunden, vielleicht ist es aber auch nur mein Problem, dass ich die Verhältnisse am liebsten übersichtlich habe und Ambivalenzen gar nicht immer so gut haben kann. Was macht Adam zu einem Stalker, wieso sagt er sich plötzlich von der Religion seiner Eltern los, und wieso gibt er sich am Schluss dann doch auf – weil Fiona ihn zurückgewiesen hat? Oder hat er vielleicht wieder zum Glauben zurückgefunden? Welche Rolle spielen die Eltern und wieso wirft er ihnen plötzlich vor, die Religion über sein Leben zu stellen, wo der doch angeblich selbst für diese Entscheidung verantwortlich war? Wieso vergießt sie die ersten und einzigen Tränen wegen seiner erneuten Erkrankung und dem Entschluss, nicht länger leben zu wollen, wo sich doch das viel wichtigere Drama genau vor ihrer Nase abspielt und sie scheinbar total kalt lässt? Hat sie sich jemals Gedanken darüber gemacht, welche Folgen ihr Urteil für die Beteiligten gehabt haben könnte? Hat sie eine private, persönliche Haltung in diesen Fragen, oder besteht sie nur aus Professionalität? An sich ist es gut und richtig, dass all diese Fragen in den Raum gestellt und zur Debatte freigegeben werden, nur fand ich mich außerstande, sie zu beantworten, und ich weiß nicht genau, ob das an einer gewissen Unentschiedenheit des Films liegt oder an meinem Unvermögen, mich tiefer in die Hauptfiguren einzufühlen. Sei’s drum, es ist mir nicht gelungen, und so fand ich mich emotional gesehen größtenteils eher wenig beteiligt, da keine der verschiedenen Ebenen für meinen Geschmack ausreichend vertieft wurde. Die grundsätzlich sorgsame und angenehm ruhige und getragene Inszenierung und das wie gesagt starke Spiel des Ensembles helfen nicht darüber hinweg, dass der Film nicht so spannend und dramatisch geworden ist, wie er sicherlich hätte werden können. Erst recht dann, wenn womöglich eine Diskussion soziopolitisch und ethisch relevanter und brisanter Themen im Raume stand, denn die findet hier höchstens in knappen Ansätzen statt. (12.9.)