Loving Vincent von Dorota Kobiela und Hugh Welchman. Polen/England, 2017. Douglas Booth, Chris O’Dowd, Jerome Flynn, Eleanor Tomlinson, Saoirse Ronan, Helen McCrory, John Sessions, Aidan Turner, Bill Thomas, Robert Gulaczyk

   Also, vorweg nochmal ein Prosit auf das Kinojahr 2018, und möge es viele ereignisreiche und anregende und spannende und bla bla bla…

   Den Auftakt macht nun der alte Vincent, ein wahres Fest für die Frascati-Fraktion, die seit gut einer Woche die Kinosäle belagert, jede Vorstellung bis auf den letzten Sitz ausverkauft und sogar den schwülstigen Abspannsong von Don McLean nach fünfundvierzig Jahren immer noch mitsingen kann (hier dargeboten übrigens in einer noch schwülstigeren Version von Lianne La Havas, von der ich Besseres gewohnt bin…). Geboten wird also Kunst, ganz groß geschrieben, noch’n Biopic, könnte man sagen, aber zugegeben mal eins, das zumindest optisch gehörig aus dem Rahmen fällt.

   Armand Roulin ist der Sohn des Postboten Joseph. Der hat einen letzten Brief von Vincent Van Gogh an seinen Bruder Theo, der noch nicht zugestellt wurde, und bittet nun seinen Sohn, dies persönlich nachzuholen. Armand erfährt, dass Theo sechs Monate nach seinem Bruder ebenfalls verstarb, und dass der Brief bei einem Dr. Gachet in den besten Händen wäre, weil Vincent nach seinem Aufenthalt in der Heilanstalt bei dessen Familie in Auvers wohnte. Dort angekommen stößt Armand sofort auf sehr unterschiedliche Meinungen und Gerüchte, die den exzentrischen Künstler betreffen. Gachets Haushälterin spricht mit unüberhörbarer Verachtung von ihm, Gachets junge Tochter Marguerite, die vom Maler in einem Porträt am Klavier verewigt wurde, schlägt hingegen vollkommen andere, verständnisvollere Töne an, und Adeline, in deren Gasthaus sowohl Van Gogh als auch Armand wohnen, kann wiederum eine andere Perspektive beisteuern. Vom Bootsmann unten an der Oise ganz zu schweigen. Armand erkennt, dass Van Gogh wenig beliebt war und als Künstler und Mensch wenig verstanden und respektiert wurde und dass er aufgrund seines dunklen, verschlossenen und unberechenbaren Wesens durchaus auch auf Angst und Aggressionen stieß. Vor allem taucht plötzlich die Frage auf, ob Vincent tatsächlich durch die eigene Hand starb, oder ob er vielleicht von jemand anderem angeschossen wurde und Tage später an den Folgen der Schusswunde verstarb. Ein Arzt vor Ort vertritt diese These vehement, Dr. Gachet jedoch, den Armand erst mit einiger Verzögerung treffen kann, versichert ihm ausführlich und letztlich glaubhaft, dass Vincent aufgrund seiner Labilität und aktueller Ereignisse nicht mehr leben wollte und wirklich selbst auf sich geschossen hat. Armand händigt ihm den Brief aus und reist dann zurück in den Süden zu seinem Vater, und genau wie alle übrigen beteiligten kann er noch nicht wissen, dass aus dem tragisch verstorbenen Vincent dereinst der größte Star der angehenden modernen Malerei werden würde.

 

   Diese Story ist eigentlich relativ egal, und irgendwann in der Mitte spürt man auch einen gewissen Durchhänger in der Dramaturgie, der auch nicht richtig wieder ausgebügelt werden kann. Ich weiß jetzt für mich nicht so genau, wie wichtig mir das war, ich ertappte mich früher oder später sowieso dabei, dass ich der Geschichte selbst kaum noch folgte, sondern mich einzig und allein darauf konzentrierte, zu sehen und zu genießen, denn das, was sich da vor uns auf der Leinwand abspielt, ist schon erstaunlich. Van Goghs Gemälde erwachen buchstäblich zum Leben. Dorota Kobiela und Hugh Welchman haben diese Gemälde jeweils als Ausgangspunkt für die nächste Szene genommen, nehmen uns mit in das Bild und erzählen von dort aus weiter, lösen die Personen praktisch aus dem Rahmen, und weiter geht’s. Der Film ist vollständig gemalt bzw. computeranimiert, und für meinen ungeübten Blick ist es grandios gelungen, die von vielen Künstlern nachempfundenen Stillleben per Digitaltechnik zu einem fließenden Ganzen zu verbinden. Wir reisen durch die Landschaft und befinden uns plötzlich wieder in einem neuen Van-Gogh-Gemälde, und völlig organisch geht die Erzählung dann in weiterentwickelte Szenen über bis zum nächsten Bild, mal Landschaft, mal Personenporträt. Sie alle wurden schließlich von Van Gogh gemalt – Marguerite, Dr. Gachet, Adeline, der Bootsmann, der struppige Dorfidiot und natürlich auch Joseph und Armand Roulin. All diese Porträts werden hier kurz angetippt und dann wieder aufgelöst in einen überzeugenden Erzählfluss. Dass die Geschichte an sich vielleicht nicht sonderlich überzeugend aufgebaut ist, würde in anderem Zusammenhang vermutlich viel störender sein als hier, denn hier geht es mir jedenfalls in erster Linie darum, die künstlerische Umsetzung zu bestaunen, und dazu gibt es allemal reichlich Anlass. Die Leinwand glüht, leuchtet, pulsiert, Van Goghs charakteristische Farbtupfer und –striche flimmern und beben, der Fluss, das Weizenfeld mit den berühmten Krähen, die sonnige Landschaft mit Bauern drin, die gesamte Welt Van Goghs, die er so eindrucksvoll für uns erstehen ließ, ist auf einmal lebendig und vor allem so, dass zumindest ich nie an einen banalen Trickfilm denken musste. Die Beteiligten zollen Van Gogh nicht nur höchsten Respekt, sie haben seine Kunst, seinen Stil, seine Farben, sein Temperament mit größtmöglicher Authentizität in ein anderes Medium übertragen,  und allein das und wie hervorragend ihnen das gelungen ist, verdient meiner Meinung nach schon höchste Anerkennung. Natürlich ist dies mithilfe moderner Technik heute theoretisch ohne weiteres möglich, aber es gehört eben mehr dazu als nur Technik, es gehören Leidenschaft und größte Gewissenhaftigkeit dazu. Dies zeichnet den Film auf jeden Fall aus, ich spüre es in jeder Einstellung, doch wie gesagt ist „Loving Vincent“ zuerst und zuletzt ein fantastisches visuelles Erlebnis. Und ich bin jetzt schon gespannt, wie viele Nachahmer der Film haben wird…(5.1.)