Jusqu’à la garde (Nach dem Urteil) von Xavier Legrand. Frankreich, 2017. Léa Drucker, Denis Ménochet, Thomas Gioria, Mathilde Auneveux, Florence Janas, Mathieu Saïkaly, Martine Vandeville, Jean-Marie Winling, Martine Schambacher, Jean-Claude Leguay
Schlimmer, beängstigender als jede Zombieschlacht, jede Endzeitvision, jedes Hackmessergemetzel ist der Horror aus dem Alltag, der Horror, der aus uns allen kommt, der uns täglich irgendwie umgibt und dem wir letztlich rat- und hilflos ausgeliefert sind. So geht es in gewisser Weise auch der Richterin, die am Anfang eine Entscheidung zu treffen hat, nämlich, ob Antoine Besson weiterhin das Recht haben soll, seinen elfjährigen Sohn Thomas per Besuchsregelung regelmäßig zu sehen. Seine Ehefrau Miriam, von der er seit einiger Zeit getrennt lebt, wehrt sich vehement dagegen und legt ein schriftliches Attest ihres Sohnes vor, indem er sich ebenfalls entschieden äußert, seinen Vater, vor dem er nur Angst hat, nicht sehen zu wollen. Die gemeinsame Tochter Joséphine steht kurz vor ihrem achtzehnten Geburtstag und hat sich längst entschieden und zwar ganz klar gegen Antoine. Der tritt als verzweifelter Vater auf, dem schweres Unrecht widerfährt und der doch nur das Recht haben will, seine geliebten Kinder sehen zu dürfen. Seine clever argumentierende Anwältin pocht auf das Elternrecht und zieht die drastischen Aussagen von Miriam und Thomas pauschal in Zweifel. Das Resultat dieser Taktik wird uns kurz darauf klar: Antoine hat tatsächlich recht bekommen, darf Thomas an jedem zweiten Wochenende zu sich holen, und nun beginnt ein zermürbendes Psychospiel, denn schon bald versteht jeder, wie falsch die Richterin gelegen hat und dass Antoine tatsächlich das Monster ist, als das seine Familie ihn dargestellt hat. Miriam will vor ihm unbedingt ihre neue Adresse verbergen und lässt Thomas immer von ihren Eltern abholen, doch Antoine setzt seinen Sohn so heftig unter Druck, dass er schon bald vor Miriams Tür steht und der ganze Terror von vorn losgeht. Antoine entfremdet sich nun auch von seinen eigenen Eltern, die seinem Wahn nicht mehr folgen wollen und steigert sich alsbald wieder in seine Eifersuchtsparanoia, in deren Folge er Thomas und Miriam zunehmend bedroht und tyrannisiert, bis es dann zur Eskalation kommt und er mit einem Jagdgewehr im Mietshaus anrückt, und einzig dem Notruf einer couragierten alten Dame gegenüber haben Miriam und Thomas wohl ihr Leben zu verdanken.
Das ist einer dieser Filme, nach denen ich erstmal tief durchatmen muss, um die tiefe Beklemmung, die sich neunzig Minuten lang in mir eingenistet hat, wenigstens ein Stück weit wieder aus dem System zu kriegen. Xavier Legrand ist ein grandios inszeniertes und gespieltes Drama gelungen, das mich vor allem durch seine Realitätsnähe erschüttert hat. Und die kaum zu beantwortende Frage: Wie kann man sich gegen diese Situation wehren? Die Autoritäten reagieren erst, wenn etwas passiert ist, die Aussage eines elfjährigen Kindes hat bei der Richterin offenbar nicht genügend Gewicht, auch wenn darin eine bemerkenswert deutliche Willensäußerung enthalten ist. Das Untersuchungsattest einer Schulärztin wird nicht anerkannt, die ganzen Schilderungen häuslicher Gewalt, die mit Sicherheit vorliegen, wiegen offenbar nicht so schwer wie das Grundrecht eines Vaters, zu seinen Kindern Kontakt haben zu dürfen. Und man kann der Richterin vermutlich noch nicht mal einen Vorwurf machen, dass sie sich so fatal täuscht, denn für sie ist der Fall Besson nur einer von vielen und natürlich hat sie viel zu wenig Zeit, um sich in die Geschichte einzuarbeiten und möglicherweise auch noch andere Stimmen zu hören, die Miriams Aussagen deutlich bestätigt hätten. Ihre Schwester beispielsweise, alle beteiligten Eltern, sie alle haben Antoines unkontrolliert gewalttätigen Charakter erlebt, seinen Kontrollwahn, seine Eifersucht. Und vor allem Miriams Familie hat eindeutig Stellung bezogen und sich von Antoine abgewandt, während seine eigenen Eltern verständlicherweise noch immer versuchen, irgendwie damit zu leben, bis er zuletzt den Bogen überspannt und der Vater ihn vor die Tür setzt. Antoines Besessenheit ist geradezu furchteinflößend, und wie Ménochet das spielt, ist es auch. Man begreift sofort, dass es ihm überhaupt nicht um Thomas geht, er ihn weder liebt noch irgendwas mit ihm anfangen kann. Er benutzt seinen wehrlosen Sohn lediglich dazu, wieder an die Mutter ranzukommen, die will er beherrschen und besitzen, und er findet sofort wieder in seinen gewohnten Modus zurück, der seine Familie jahrelang in Angst und Schrecken versetzt hat. Diese häusliche Gewalt schafft nur Opfer, zerstört alles und jeden. Jeden Einzelnen, aber auch ganze Familien. Joséphine wird am Tag ihrer Volljährigkeit zusammen mit ihrem Freund abhauen, ihre Mutter verlassen, weil es für sie keinen anderen Weg gibt, auch wenn wir ihr die Verzweiflung und die Schuld deutlich ansehen. Miriam selbst ist solange schon Opfer, dass sie fast keine Kraft mehr hat, sich zu wehren, sie ist so traumatisiert, entmutigt und entwürdigt worden, dass sie Antoine letztlich nichts mehr entgegenzusetzen hat, und wenn nicht gelegentlich ihre Schwester für sie einspringt und auf sie aufpasst, ist da niemand an ihrer Seite, und sie wiederum kann auch Thomas nicht beschützen. All die vertrauten Mechanismen, unter denen sie seit Jahren leidet, haben sie gelähmt, handlungsunfähig gemacht, haben sie auch als Mensch gebrochen. Dies hat mich glaube ich am stärksten bewegt am gesamten Film, aber auch Thomas und seine Situation. Selten oder wahrscheinlich noch nie habe ich einen so jungen Schauspieler gesehen, der eiern seit Jahren erlernte und eingepflanzte Angst und Panik so unglaublich intensiv vermitteln kann. Seine Körperhaltung, vor allem die angespannte, versteinerte Mimik, immer in Erwartung des nächsten Ausbruchs, seine Versuche, sich den Übergriffen des Vaters zu widersetzen und die Einsicht, dass er es doch nicht schaffen kann, all das ist furchtbar und wird mir sicherlich noch lange im Kopf bleiben.
Legrand inszeniert vollkommen ruhig und konzentriert, verzichtet auf jegliche melodramatischen Effekte, und die braucht es hier wahrlich nicht, um maximale Intensität zu erzeugen. Die Realitätsnähe des Geschehens und der Personen, die grandiosen Darsteller und die sorgsame, einfühlsame Inszenierung haben ein Familiendrama hervorgebracht, das ich lange nicht so eindrucksvoll gesehen habe. Und ja – sie können es doch noch, die Franzosen… (25.8.)