Todos lo saben (Offenes Geheimns) von Asghar Farhadi. Spanien/Frankreich/ Italien, 2018. Penélope Cruz, Javier Bardem, Ricardo Darín, Bárbara Lennie, Carla Campra, Eduard Fernández, Inma Cuesta, Elvira Mínguez, Ramón Barea, Sara Sálamo
All jene, die vielleicht befürchteten, der Herr Farhadi würde etwas von seiner Magie verlieren, wenn er sich außer Landes begibt, können sich beruhigen: Nein, der Mann hat nichts eingebüßt, es ist alles noch genau so da wie in seinen iranischen Meisterwerken. Folglich ist auch „Offenes Geheimnis“ ein Meisterwerk, nur eben ein spanisches, und das kann mir wirklich total schnuppe sein.
Offenes Geheimnis – das kennt jeder. Alles haben es gewusst, und keiner hat was gesagt. Alle wussten, dass Laura mit ihrer alten Liebe Paco noch mal was hatte, obwohl sie längst mit Alejandro verheiratet war und auch längst nicht mehr in Spanien lebte sondern in Argentinien. Alle ahnten auch, dass Irene dementsprechend Pacos Tochter war und nicht Alejandros. Laura hat das sofort mit ihrem Mann besprochen, der damals in einer schweren alkoholbedingten Krise steckte, und der das Kind als seines annahm und so, wie er später sagte, gerettet wurde, wieder einen Sinn im Leben fand. Laura nahm aber weiterhin an, dass nur sie und Alejandro davon wussten, ein verhängnisvoller Irrtum. Jahre später ist Irene sechzehn, und alle sind zur Hochzeit von Lauras jüngerer Schwester eingeladen. Laura kommt ohne ihren Mann, der zuhause seit zwei Jahren auf Jobsuche ist (noch so ein Geheimnis), nur mit ihren beiden Kindern. Irene führt sich wild und ungestüm auf, und alle sagen, dass sie dem jungen Paco sehr ähnelt. Auf der Feier verschwindet sie dann ganz plötzlich, und kurz darauf kriegt Laura eine Nachricht: Irene wurde entführt und es wird um Lösegeld gehen. Die erste Reaktion ist Panik – Irene wird vergeblich gesucht, ebenso wild sind die spontanen Verdächtigungen. Ein pensionierter Polizeibeamter steht der Familie mit Rat und Tat zur Seite und lenkt die Aufmerksamkeit auf die richtigen Fragen, und diese Fragen führen zu einem schrittweisen und gleichsam unaufhaltsamen Zerfall der Familie, die seit vielen Generationen Wein anbaut und scheinbar so eng und harmonisch verschworen ist. Nun brechen sich Misstrauen, Zweifel, Anschuldigungen ihre Bahn. Könnten die Entführer tatsächlich aus dem engeren Kreis kommen? Welche Rolle spielt Paco, dem Laura einst viel zu günstig ihren Anteil am Land überließ, um Paco aus der Klemme zu helfen? Oder steckt gar Alejandro dahinter, der sich gleichfalls in wirtschaftlicher Not befindet? Jeder verdächtigt plötzlich jeden, und als Laura Paco endlich die Wahrheit über seine Vaterschaft offenbart, gerät die Situation noch mehr aus den Fugen. Bea, Pacos Ehefrau, unterstellt Laura Verlogenheit und Berechnung, und der Pensionär fragt, wer noch davon gewusst haben könnte, denn auf einmal kriegt auch Bea Textnachrichten, was darauf schließen lässt, dass die Entführer auf Nummer sicher gehen und beide Väter erpressen wollen. Am Ende verkauft Paco seine Finca und sein Land, um das Lösegeld auftreiben zu können, Irene wird befreit, Laura reist mitsamt ihrer Familie ab, und zurück bleibt ein Scherbenhaufen. Paco und Bea sind am Ende, die tiefen Wunden innerhalb der Familie werden niemals verheilen, umso weniger, als die Täter tatsächlich unter ihnen sind – auch dies ist zunächst noch ein von wenigen geteiltes Geheimnis, das aber, wie die Schlussszene nahelegt, nicht lange eines bleiben wird…
Ähnlich unerbittlich wie in „Nader und Simin“ oder „The Salesman“ dekliniert Farhadi die völlige Desintegration einer zuvor scheinbar soliden, tragfähigen Struktur. Ein harmonisches, ausgelassen fröhliches Familienfest endet jäh, als Irene nicht auffindbar ist, und was nun in den folgenden zwei Stunden folgt, ist ein tragischer Prozess, der nicht zu stoppen oder zu umzuleiten ist und den Farhadi mit der ihm eigenen Gründlichkeit verfolgt. Seine gewohnt ruhige Regie schließt Empathie keineswegs aus – die Tragik der Ereignisse liegt darin, dass irgendwie niemand Schuld ist, niemand der alleinige Auslöser, und dennoch oder jeder ein kleines Stück dazu beigetragen, häufig unbeabsichtigt und in Unkenntnis der möglichen Folgen. Die Tragik liegt auch darin, dass niemand Böses im Sinn hat, mit Ausnahme der Entführer natürlich. Alle anderen sind ganz normale Menschen, die gewohnt sind, mögliche hässliche Gefühle wohlwollend zu beherrschen im Dienste der Familie, denn die zählt hier alles. Der Zusammenhalt ist durchaus nicht ohne Spannungen und Konflikte erreicht worden, doch jeder weiß das, man kennt sich, weiß, was man aneinander hat und dass man einander braucht. Natürlich hat jeder so seine eigene Meinung zu Lauras Umzug nach Buenos Aires oder zu ihrem Verhältnis mit Paco und auch dazu, dass sie ihm das Land mehr oder weniger geschenkt hat. Bea, die anders als Paco außenstehend und deutlich kämpferischer veranlagt ist, weißt die Familie im Gegenzug darauf hin, dass sie und ihr Mann sieben Jahre lang hart geschuftet haben, um das Land fruchtbar zu machen, womit sie auf jeden Fall ihren Beitrag geleistet und ihre Berechtigung erarbeitet haben. Und so geht es weiter, mal wird der Ton schärfer, die Vorwürfe härter, die Verdächtigungen drastischer, mal wird es wieder etwas versöhnlicher, versuchen die Menschen, wieder zueinander zu kommen, um sich auf das zu besinnen, worum es in erster Linie gehen sollte, nämlich Irene unbeschadet zurück zu bekommen. Doch die Brüche sind unübersehbar, und ab einem gewissen Zeitpunkt verstehen wir auch, dass sie nicht mehr reparabel sein werden.
Wie Farhadi dieses komplexe und vielgestaltige Beziehungsgeflecht handhabt, wie er mich einerseits emotional stark beteiligt und andererseits dafür sorgt, dass ich mich weder auf die eine noch auf die andere Seite schlage, sondern einen jeden in seiner oder ihrer Position anerkenne, das ist großartig und ganz besondere Filmkunst. Wenig Regisseure beherrschen dieses Terrain momentan so vollendet wie Farhadi, und das Faszinierende an ihm ist, dass er nach wie vor keine besonderen dramaturgischen Tricks bemühen muss, dass es ihm nach wie vor genügt, sich gründlich und einfühlsam mit einer mehr oder weniger überschaubaren Gruppe von Menschen zu beschäftigen und zu fragen, was sie verbindet und wie stabil und sicher diese Verbindungen sind, beziehungsweise unter welchen Umständen diese Verbindung bröckeln können. Ein absolut beeindruckender Film, dessen zweieinviertel Stunden zu keinem Zeitpunkt spürbar werden, und der natürlich auch getragen wird von einem ganz großartigen Ensemble, dem man die absolute Hingabe an den Regisseur deutlich anmerkt. (Wo der Mann die vielen schönen Frauen aufgetrieben hat, möchte ich auch mal wissen…)
Ein psychologisches Familiendrama in Vollendung, Autorenkino vom allerfeinsten, und mir wird es auch weiterhin egal sein, wo Asghar Farhadi seine Zelte aufschlägt, solange dabei solch wunderbare Filmkunst entsteht… (9.10.)