Manbiki Kazoku (Shoplifters) von Hirokazu Kore-eda. Japan, 2018. Lily Franky, Sakura Ando, Mayu Matsuoka, Kirin Kiki, Kairi Jō, Miyu Sasaki
Die letzten drei Filme von Kore-eda, soweit hierzulande rezipierbar, was in der Kinowüste BRD ungefähr nur für jeden zweiten seiner Filme gilt, waren reine Magie, Familienfilme voller Zartheit, Poesie, leisem Humor und einem unnachahmlich genauen Blick für das, was uns Menschen verbindet. Seine Filme sind für uns ungefähr das, was vor sechzig Jahren Ozus Filme für die damalige Generation war, nämlich ein kostbarer Schatz, wie Wim Wenders es selten treffend formulierte. Schade eben, dass ich in einer Kinowüste lebe – Kore-eda hat in den vergangenen zehn Jahren acht Filme inszeniert – gerade mal vier waren in unserer kleinen Stadt für kurze Zeit zu sehen. Aber wahrscheinlich liegt’s wieder mal an mir, ich muss einfach das halbvolle Glas sehen und mich darüber freuen, dass ich diese Filme überhaupt sehen konnte.
Um nochmal auf die letzten drei Filme zurückzukommen. Ich muss schon einen Film weiter zurückgehen, zu „Nobody knows“ von 2004 um genau zu sein, um einen ähnlich konkret sozialkritischen Ansatz bei Kore-eda zu erleben wie in „Shoplifters“. Damals wurde eine Handvoll kleiner Geschwister mehr oder weniger sich selbst überlassen und wir sahen auf eine Gesellschaft, die das geschehen ließ. Diesmal geht es ganz ähnlich zu: Ein kleiner Junge wird im Auto vor einem Spielsalon geparkt und dort stundenlang zurückgelassen. Ein kleines Mädchen wird von seinen Eltern regelmäßig auf dem Balkon ausgesperrt, egal bei welchem Wetter, und die vielen Narben weisen mehr als deutlich auf wiederholte Misshandlungen hin, was sich zum Schluss schlagartig bestätigt, als wir das zerbeulte Gesicht ihrer Mutter sehen. Beide Kinder werden „gerettet“ oder „entführt“, je nachdem, von welcher Seite aus man es betrachtet, und integriert in eine höchst skurrile Wohngemeinschaft, die in einer alten, von allerlei Dickicht umwachsenen Hütte im Schatten modernster Wohnblocks haust. Die alte Oma scheint die Haupternährerin zu sein, sie besucht regelmäßig die neue Familie ihres Ex-Mannes und lässt sich dort quasi für schlechtes Gewissen bezahlen. Osamu arbeitet auf dem Bau und bessert die Lage durch geschickte Ladendiebstähle auf. Seine Frau Nobuyo arbeitet in einer Fabrik, die junge Aki im Hostessenservice, wo sie sich vor einer halbdurchsichtigen Scheibe für Männer in sexy Posen wirft. Der besagte Junge, Shota, wird von Osamu als Kompagnon bei den Diebstählen eingearbeitet, das besagte kleine Mädchen, Yuri, wird erstmal versteckt, und als im Fernsehen über ihr Verschwinden berichtet wird, kriegt sie eine neue Frisur und einen neuen Namen. Die wahren Familienverhältnisse werden uns erst nach und nach klar, wenn überhaupt, auch den Beteiligten selbst. Shota gerät in Bedrängnis, als er die kleine Yuri als Komplizin einarbeiten soll, doch Osamu beruhigt ihn immer wieder mit seinem Dogma, dass Ladendiebstahl nicht schlimm sei, weil die gestohlenen Waren ja noch niemandem gehören. Nach einem schönen Tag am Meer, der die gesamte „Familie“ in seltener Harmonie vereinigt, stirbt die Oma friedlich im Schlaf, und Osamu und Nobuyo vergraben sie im Garten, weil sie sich ein Begräbnis nicht leisten können und natürlich auch gar nicht an die Öffentlichkeit treten könnten. Später, als die Polizei ermittelt, erfahren wir, dass die beiden so etwas schon einmal getan haben, nämlich mit Nobuyos gewalttätigem Ehemann, den die beiden auch noch umgebracht hatten. Nobuyo verliert ihren Job, wird von einer Kollegin erpresst, die mitgekriegt hat, dass die kleine Yuri bei ihnen ist. Aki erfährt, dass sei eigentlich Teil von Omas ehemaliger Familie ist und auf irgendeine Art auch von dieser „verkauft“ wurde. Und Shota verliert den Glauben an Osamu, den er nie „Papa“ nennen wollte, als dieser in ein Auto einbricht und eine Tasche rausholt, einfach weil die Finanznot so groß geworden ist. Zuvor hat er bereits eine für ihn richtungsweisende Begegnung mit dem alten Kioskbesitzer, der ihm zwei Süßigkeiten schenkt und ihn bittet, seiner kleinen Schwester nicht auch noch das Stehlen beizubringen – eine Szene, die mir in ihrer Schlichtheit und gleichzeitigen Wucht den Atem stocken ließ. Dann geht alles ganz rasch den Bach hinunter: Shota lässt sich absichtlich erwischen, stürzt auf der Flucht und landet mit gebrochenem Bein im Krankenhaus und danach in einer Fürsorgeeinrichtung für Jugendliche. Osamu und Shobuyo werden festgenommen, Yuri kommt zurück zu ihren Eltern, die sie genauso vernachlässigen wie zuvor. Shobuyo nimmt alle Schuld auf sich, weil Osamu schon vorbestraft ist und gibt Shota einen Hinweis auf dessen wahre Herkunft. Shota und Osamu treffen sich noch einmal, und Osamu macht ihm klar, dass er ihm kein Vater mehr sein kann. Als er nach dem endgültigen Abschied im Zug sitzt nennt Shota ihn dennoch zum ersten und einzigen Mal „Papa“. Der letzte Blick gilt Yuri, die wieder allein wie zu Beginn auf dem Balkon steht und hinaus auf die Stadt schaut.
Um es kurz zu machen – mit den letzten drei Kore-eda-Filmen habe ich mich wohler gefühlt. Oder nein, um mein persönliches Unwort zu vermeiden, ich würde eher „sicherer“ sagen. „Shoplifters“ hinterlässt in mir ein ähnliches Unbehagen, eine ähnliche Beklemmung wie einst „Nobody knows“, und die Meisterschaft dieses großartigen Regisseurs lässt sich daran ablesen, wie tief einerseits die Beklemmung ist, wie nachhaltig aber auch die Wirkung dieses Films, der sich praktisch in Schichten offenbart und zum buchstäblichen Nach-Denken anregt. Im Vordergrund stehen die bei Kore-eda gewohnten Fragen: Was macht eine Familie aus, was verbindet uns, wo hört Fürsorge auf und fängt Missbrauch an. Und kann man Fürsorge und Missbrauch überhaupt in irgendeiner Weise gegeneinander abwägen? Mit diesem Dilemma sehen wir uns beim Zuschauen fortwährend konfrontiert, und Kore-eda tut uns nicht den gefallen, einfache Antworten, klare Gegenüberstellungen anzubieten, und genau dieser unauflösbare Zwiespalt wirkt so bedrückend, fast bedrohlich, weil er einfach unserem reflexartigen Bedürfnis nach klaren Verhältnissen radikal zuwiderläuft. Wenige Regisseure können das auf diese Weise, und das macht natürlich eine der Qualitäten des Films aus. Shota und Yuri erfahren einerseits mehr Zuwendung und Geborgenheit als in ihren jeweiligen Elternhäusern, keine Frage. Doch sie werden streng genommen gleichzeitig missbraucht. Shota wird zum Diebstahl angestiftet unter sehr fragwürdigem Vorwand, und mit Yuri soll schließlich dasselbe geschehen. Beide werden aus ihren Familien gerissen und verstehen nicht, was mit ihnen geschieht. Beide werden mit Verhältnissen konfrontiert, die sie nicht verstehen, sie werden im Grunde rundherum belogen. Und dennoch fühlen sie etwas wie ein Zuhause, eine Familie, und das scheint einiges wieder aufzuwiegen. Oder? Wir sehen zum Teil eine unkonventionelle, anarchistisch-fröhliche Wohngemeinschaft am, Rande der Gesellschaft mit sehr lockeren Moralvorstellungen und noch lockereren Vorstellungen von Besitz und Eigentum und Recht und Ordnung. Alles Dinge, über die wir uns eigentlich amüsieren könnten, wie auch über Akis Abenteuer im Hostess-Center oder Omas schrullige Clownerien. Mit fortschreitender Dauer jedoch verändert sich der Ton, und wir werden uns fast zwangsläufig bewusst, dass all dies für die betroffenen Kinder alles andere als harmlos ist, erst recht, als das Kartenhaus ruckartig in sich zusammenfällt und wir durch die polizeilichen Ermittlungen ein paar sehr vielsagende Informationen zugesteckt bekommen. Dennoch bleiben als letztes Yuris leerer, trauriger Blick und die Gewissheit, dass es in ihr gewisser Weise in der anderen Familie besser ging als in ihrer eigenen. Es gibt keinen leichten Ausweg aus der Zwickmühle.
Neben dem Blick auf diese spezielle „Familie“ richtet sich die Perspektive gelegentlich weiter auf die Gesellschaft im Ganzen, auf Armut, Randexistenzen, familiäre Missstände. Kore-eda hat daraus wie gewohnt kein lautstarkes Sozialpamphlet gefertigt, sondern einen bedächtigen, intimen, sparsamen Film, der trotz der Länge von zwei Stunden nicht ausufernd wirkt, sondern manchmal fast schon karg und knapp, der keine Erklärungen anbietet, keine moralische Richtschnur, der uns vielmehr dazu ermutigt, unseren eigenen Kompass zu befragen im Hinblick darauf, wie wir das Verhalten von Osamu und Shobuyo beurteilen wollen. Ich kenne eigentlich derzeit keinen anderen Filmemacher, der sich so famos darauf versteht, aus ganz unscheinbaren, alltäglichen Familiengeschichten elementare Betrachtungen zur condition humaine abzuleiten, jedenfalls nicht auf derart gleichbleibend hohem Niveau. Und weil das so ist, bin ich dann doch froh, wenn ich weiterhin wenigstens jeden zweiten Film von ihm zu sehen kriege. (27.12.)