Tully von Jason Reitman. USA, 2018. Charlize Theron, Mackenzie Davis, Ron Livingston, Mark Duplass, Elaine Tan, Asher Miles Fallica, Lia Frankland

   Für Marlo sieht die Welt momentan so aus: Zwei Kinder, davon ein psychisch auffälliger Junge, wegen dem sie dauernd in die Schule zitiert wird. Das dritte ist unterwegs, weswegen sie gerade wie eine Melone aussieht. Der tägliche Ablauf verlangt ihr alle Energie ab, die sie noch aufbringen kann. Der Beitrag ihres Gatten Drew dazu: Morgens ein Küsschen auf den Scheitel, ab zur Arbeit, abends ein Küsschen auf den Scheitel, ab vor die Glotze zum Zocken. Ihr Bruder Craig, Marke geschniegelter, erfolgreicher, statusfixierter Wichser, möchte der chronisch gestressten und missgelaunten Schwester was Gutes tun und gibt ihr die Nummer einer sogenannten Night Nanny, mit der er und seine Gemahlin beste Erfahrungen gemacht haben. Marlo weist die Offerte zunächst entrüstet zurück, doch nach der Geburt ihrer kleinen Tochter und noch mehr Stress und Frust zwischen Daheim (wo der Göttergatte immer noch nicht mehr tut als beschrieben) und Schule (die der ewig schwer erziehbare Sohn verlassen muss), ändert sie ihre Meinung, und so klingelt eines Abends eine junge Frau an der Tür und stellt sich als Tully die Night Nanny vor. Tully ist alles, was Marlo zurzeit nach ihrer eigenen Wahrnehmung nicht ist: Jung, attraktiv, schlank, vital, optimistisch, einfach total gut drauf. Räumt eben mal so die ganze Bude auf, backt nachts Muffins, hat immer einen netten, patenten Ratschlag zur Hand, und plötzlich sind Marlos Nächte so erholsam und ruhig wie schon ewig nicht mehr. Sie schöpft neue Kraft, kann sich den täglichen Dingen wieder ganz anders stellen. Zwischen Tully und ihr entwickelt sich eine Nähe, eine Komplizenschaft, eine echte Frauenfreundschaft, und eines Nachts fahren die beiden rüber nach Brooklyn, um mal wieder so richtig Spaß zu haben. Die ganze Sache gerät allerdings total aus dem Ruder, und eine angetrunkene, eingenickerte Marlo fährt den Wagen in einen Fluss. Dort öffnet ihr unter Wasser eine Nixe mit Tullys  Gesicht wie Wagentür, schnallt sie ab und rettet sie damit. Drew taucht total aufgelöst im Krankenhaus auf, und erst jetzt dämmert es ihm, dass er seine Frau mit allem so ziemlich allein gelassen hat. Bei der Anmeldung wir er nach ihrem Mädchennamen gefragt und er nennt ihn: Tully…

   Und so wird sozusagen auf den allerletzten Sticken aus einer wunderbar fest im Alltag verwurzelten Tragikomödie über eine überforderte Mutter und ihre neue (und, wie wir feststellen, leider auch einzige) beste Freundin noch etwas ganz anderes, nämlich eine nicht minder wunderbar im Alltag verwurzelte Hommage an die Selbstheilungskräfte der Frauen. Also, hab ich jetzt so gesehen. Drew lässt sich Abend und für Abend ganz geschafft von der harten Arbeit „und dem vielen Stress mit drei Kindern“ (von dem er genau genommen rein gar nichts mitkriegt) vor die Konsole plumpsen und ist nicht mal mehr imstande, seiner Frau den dringend nötigen seelischen Beistand zu geben, und so ist ihre Beziehung mittlerweile auch geworden. Der letzte Sex liegt ewig zurück, und Marlo fühlt sich obendrein momentan alles andere als sexy, erst recht im Vergleich zur gertenschlanken Tully, bei der obendrein alles so spielend leicht zu gehen scheint, wo sie selbst sich plump und unbeholfen fühlt. Selbst als es darum geht, Drew mal wieder etwas auf Touren zu bringen mit einer Serviererinnenschürze aus dem Diner (Drew steht offenbar auf sowas…), schickt sie die junge Frau vor. Erst durch die Freundschaft mit der imaginierten Tully, einer Art jüngerem alter ego, zieht sich Marlo selbst aus der Krise, reaktiviert sie längst verloren geglaubte Ressourcen, wohl wissend, dass sie selbst das tun muss, weil Drew offenbar keinen Blick für ihre Situation hat. Eine wirklich ungewöhnliche und extrem originelle Selbsttherapie, nur weiß ich nicht  wirklich, ob sie unbedingt zur Nachahmung einlädt, denn größte Vorsicht ist geboten, wie Marlos Beispiel zeigt.

   Das bewährte Autorenpaar Reitman/Cody balanciert mit frappierender Selbstverständlichkeit auf dem schmalen Grat zwischen Komik und Ernst. Eine handfeste postnatale Depression ist mit im Spiel, ebenso eine offenbar höchst belastete Kindheit, denn hier und da klingt aus Gesprächen zwischen Marlo und ihrem Bruder an, dass ihr gemeinsames Elternhaus nicht gerade intakt und konfliktfrei wer. Dann noch der halb autistische Sohn Jonah, das verlogene Getue der Schuldirektorin („Wir lieben Ihre Familie wirklich, aber…“), die ekelhaft (selbst)zufriedene Schwägerin, der natürlich immer alles ganz leicht von der Hand geht, und es wäre wahrlich genug Stoff für ein schweres Familiending beisammen, doch „Tully“ verliert niemals seinen leichten Tonfall, wobei „leicht“ eben nicht dasselbe ist wie „seicht“. Jede Menge spitzzüngiger Humor ist im Spiel, ebenso eine liebenswürdig hohe Dosis an Selbstironie und ein überaus empathischer Blick auf die Heldinnen des Alltags, die von ihren schluffigen Partnern mit schönster Regelmäßigkeit im Stich gelassen werden und all die großen und kleinen Hürden ganz allein meistern müssen. Und sie tun’s – während ihr Kerl daheim Zombies abknallt…

 

   Charlize Theron (die viele Jahre nach „Monster“ mal wieder Mut zur höchst unvorteilhaften Mutation an den Tag legt…) und Mackenzie Davis finden eine tolle Chemie zusammen, und im Nachhinein erkenne ich auch gewisse Muster, das Ungreifbare, Vage an Tully, die gar nichts von sich preisgibt und eines Tages dann einfach verkündet, sie werde kündigen und wieder weiterziehen. Theron hingegen wirkt total geerdet, jederzeit glaubwürdig und hinreißend verletzlich und erschöpft, und doch auch in tiefster Erschöpfung noch bereit, zu kämpfen, wobei sie nach guter alter Mamasitte die eigenen Interessen und Befindlichkeiten schön nach hinten stellt und auch hier von ihrem Drew in keiner Weise aufgefangen wird. Ein richtig schöner US-Film, einer von den oben bei „Lady Bird“ schon mal angesprochenen „kleineren“ Produktionen, die einfach mehr mit unserem normalen Leben zu tun haben und sich nicht in irgendwelche fernen Galaxien zu irgendwelchen Superhelden verkrümeln müssen. Ein Film voller Charme und Liebe, und so kann ich auch mal mit den Amis gut leben. (19.6.)