Utøya 22. juli von Nils Poppe. Norwegen, 2018. Andrea Berntzen, Aleksander Holmen, Brede Fristad, Elli Rhiannon Müller Osborne, Sorosh Sadat, Ada Eide, Solveig Koløen Birkeland

   Wirklich nicht ganz leicht, so nahe nach dem Film was Vernünftiges, Abgewogenes dazu zu sagen. Zu heftig und widersprüchlich sind noch die Gefühle, die da in mir arbeiten – und es zeichnet den Film an sich schon mal aus, dass er imstande ist, diese Gefühle überhaupt zu erzeugen und dann auch noch so nachhaltig und intensiv. Gibt‘s auch nicht so häufig, soviel ist mal sicher. Erschütterung natürlich, Fassungslosigkeit, Wut und noch etwas anderes, was mir gar nicht so gut gefallen hat und von dem ich nicht mal weiß, ob Nils Poppe diese Wirkung mit voller Absicht anstrebte oder ob sie bei mir nur das Resultat seiner Entscheidung war, ausgerechnet jenes Mädchen, mit dem ich achtzig Minuten gefiebert und gelitten habe, schlussendlich doch sterben zu lassen. Denn ganz ehrlich, ich hab mich fast ein bisschen betrogen gefühlt, nicht weil ich auf ein Happy End aus war, das es hier unter keinen Umständen hätte geben können, sondern weil ich mich ganz plötzlich in ein emotionales Vakuum gezogen fühlte, das ich als ausgesprochen unangenehm empfand – wie gesagt, vielleicht Absicht des Regisseurs, vielleicht auch nicht. Vielleicht war er nur mit aller Macht darauf aus, auch ja nichts zu beschönigen und zu glätten. Letztlich ist das mein Problem, schon klar.

   Ansonsten ist dies ein ebenso konsequenter wie sehr eindrucksvoll realisierter Versuch, das noch immer unfassliche Grauen des Mordanschlags vom 22. Juni 2011 strikt aus der Opferperspektive zu erfassen. Der Täter erscheint nur kurz und schemenhaft im Bild und wird nicht mal mit Namen genannt – eine völlig richtige Geste, denn dieser Abschaum ist es nicht wert, irgendwie auch nur in die Nähe seiner Opfer gerückt zu werden, jedenfalls nicht im Rahmen dieses Konzepts.

   Nach einer kurzen Exposition, die dokumentarisch die Explosionen von Oslo zeigt, geht es direkt auf die Insel in das Feriencamp der ahnungslosen Jugendlichen. Hier lernen wir Kaja kennen, die zusammen mit ihrer jüngeren Schwester Emilie dabei ist und wie alle anderen vollkommen unvorbereitet mit dem Inferno konfrontieret wird. Die ersten Schüsse, die Fragen, was das gewesen sein könnte, die ersten Jugendlichen, die in Panik Schutz suchen, die Gewissheit, dass hier etwas Schlimmes geschieht, die schreckliche Ungewissheit, was es sein könnte und wer hier schießt. Ist es am Ende nur eine Polizeiübung, wie einer der jungen Männer glaubt? Man ruft um Hilfe, versteckt sich, rennt in den Wald, und bald ist klar, dass es auf der kleinen Insel kaum eine Chance gibt, dem Schützen, der das endlos drauflosballert, wirklich zu entkommen. Kaja sucht zudem nach ihrer Schwester, von der sie sich im Streit getrennt hatte und die sie nun nicht wiederfinden kann. Zwischendurch begegnet sie vielen anderen Flüchtenden, muss erleben, wie ein Mädchen in ihren Armen stirbt, muss auch erleben, dass sie einen kleinen Jungen nicht retten kann und findet vorübergehend Schutz unter einer Klippe gemeinsam mit Magnus, den sie zuvor schon kennen gelernt hatte. Eine kurze Atempause, ein kurzer Moment der Ruhe, unterbrochen immer wieder durch weitere Schüsse, bis es Kaja am Ende dann doch noch trifft, ganz kurze bevor einige Jugendliche auf einem Boot in Sicherheit gebracht werden können, unter ihnen auch Emilie…

   Auch dies habe ich als einen weiteren Tritt in den Magen empfunden, eine fast zynische Schlussnote eines Films, der sicherlich alles andere sein will als zynisch, der sich nämlich voll und ganz auf die Seite der Opfer stellt und achtzig atemlose Minuten lang bei ihnen bleibt, ungeschnitten mit Handkamera und in einen einzigartigen Intensität, die es mir praktisch unmöglich macht, das geschehen von außen zu verfolgen. Die Intention ist auch hier klar: Den Zuschauer hineinzuziehen und zwar möglichst komplett in diese achtzig Minuten Terror, Angst, Hilflosigkeit, Orientierungslosigkeit. Dies ist Nils Poppe zweifelsfrei grandios gelungen – selten hat ein Film diese Zustände und Emotionen so unmittelbar auf die Leinwand gebracht, selten hat ein Film den Opfern von Gewalt ein derart kraftvolles Denkmal gesetzt, und damit hat er sein wichtigstes Ziel sicherlich voll erreicht. Es gibt keinen technischen Schnickschnack, keine Musik, keine dramaturgischen Mätzchen (abgesehen vielleicht von den ziemlich überflüssigen „True colors“, die Kaja zwischendurch singen muss) jedenfalls nicht oberflächlich betrachtet, es gibt nur diese eine Situation, in die wir alle hineingeworfen werden, die nicht aufgeklärt wird, nicht verarbeitet wird. Sie ist einfach da, in diesem Moment, in diesen qualvollen achtzig Minuten, von deren tatsächlichem Grauen wohl nur die Überlebenden wissen.

 

   Andrea Berntzen verkörpert die Kaja mit faszinierender Präsenz, und sie ist umgeben von Mitspielern, die es ihr annähernd gleich tun. Sie bleibt dabei das eine Gesicht der Katastrophe, das wir auch benötigen, um hineinzukommen, um Nähe und Identifikation zu entwickeln, weshalb mich ihr später Tod auch so betroffen hat, aber das beschrieb ich ja schon. Poppe versucht während des Films an keiner Stelle, einen Überblick über die Situation zu geben, erst im Nachspann druckt er einige kurze Sätze ab, die wiederum ein Maß an Vorwissen voraussetzen. Ich hätte gut ohne diesen Nachspann auskommen können, denn die Bilder und Szenen zuvor waren weißgott ausdrucksvoll genug, sie funktionieren fast ohne Worte, und was Angst und Terror bedeuten, wurde noch niemals auf der Leinwand so greifbar wie in diesem Film. Wie schon gesagt, kann ich Poppe am Schluss nicht ganz folgen, und wie ebenfalls schon gesagt, ist das allein meine Sorge, oder zeigt mir sogar, wie gut Poppe sein Vorhaben in die Tat umgesetzt hat. Ein bedrückender, bedrängender, beängstigender Film, wiederum über einen Horror, der direkt von uns selbst kommt. Er wird mich wohl noch einige Zeit verfolgen, und das ist gut und richtig und markiert „Utøya 22. Juli“ als einen der wichtigsten Filme des Jahres – ob er nun auch einer der besten ist, das muss ich noch mit mir auskämpfen. Gespannt bin ich jetzt auf Paul Greengrass‘ Version der Ereignisse, die kurioserweise auch in Kürze zu sehen sein wird, weshalb sich ein direkter Vergleich anbietet. Schaun wer mal… (8.10.)