All my loving von Edward Berger. BRD, 2019. Lars Eisdinger, Nele Mueller-Stöfen, Hans Löw, Godehard Giese, Manfred Zapatka, Christine Schorn, Valerie Pachner

   Drei Geschwister, am Anfang und am Ende als eine Art Klammer jeweils eine gemeinsame Begegnung, dazwischen hat jeder der Reihe nach sein/ihr Solo:

   Stefan ist Pilot. Liebt das große Leben mit schnellem Sex und schnellen Autos, fährt deshalb Porsche und trägt abends in den Clubs seine Uniform, weil er genau weiß, dass die Mädels drauf stehen und er todsicher jedesmal eine abschleppen wird. Sein Ego kriegt eine arge Delle, als er sich wegen dauernder Kopfschmerzen und häufigen Schwindels untersuchen lässt und dabei ein bleibender Augenschaden diagnostiziert wird, der es ihm unmöglich machen wird, seinen Beruf weiter auszuüben. Plötzlich ist aus der großen Blase die Luft raus, zumal ansonsten in seinem Alltag gar nicht viel läuft, auch das Verhältnis zu seiner fast erwachsenen Tochter, die er aus irgendeiner seiner vielen flüchtigen Beziehungen hat, ist alles andere als entspannt, was er aber erst kapiert, als sie ihm sehr deutlich und schmerzhaft zu verstehen gibt, dass er sich gefälligst nicht in ihr Leben mischen soll. Als er mit seinen beiden Geschwistern eingangs kurz zusammensitzt und die Frage aufkommt, wer sich vorübergehend um die alte Mutter und wer sich um Schwesterchens Hund kümmern soll, während sie verreist ist, regelt er die Sache sofort in seinem Sinne, wählt den Hund und lässt seinen jüngeren Bruder mit der Mutter sitzen, in der Annahme, er habe eine günstige Entscheidung getroffen. Das stellt sich aber wenigstens teilweise als Irrtum heraus…

   Schwester Julia reist mit ihrem Mann Christian also nach Turin, endlich mal eine Auszeit für die beiden. Doch bald schon trifft sie auf einen herrenlosen Straßenhund, der von einem Auto angefahren wurde und verletzt liegen blieb und um den sie sich nun mit aller Macht kümmern will, egal was ihr Mann oder der hinzugerufene Arzt oder sonstwer sagt. Ein Abend mit Bekannten, die man zufällig nach Jahren in der Stadt getroffen und deren Einladung zumindest Christian höchst widerwillig akzeptiert hat, bringt dann die Hintergründe für Julias verspanntes Verhalten ans Licht: Vor Jahren verloren die beiden ihren damals achtjährigen Sohn und sind  bislang nicht über diesen Schicksalsschlag hinweggekommen. Ihre Versuche, drüber zu reden oder das Erlebte irgendwie zu verarbeiten, enden zumeist in Bitterkeit und gegenseitigen Angriffen. Auch in Turin kommen die beiden scheinbar nicht wie erhofft weiter. Immerhin hat Julia am Ende die Kraft, den genesenen Straßenköter wieder in die Freiheit zu entlassen.

   Tobias ist der Jüngste, mit Ende Dreißig noch Student, lebt mit drei Kindern und seiner Frau, die das Geld nach Hause bringt, während er sich endlos mit seiner Abschlussarbeit abmüht. Da auf ihn die Wahl fiel, mal nach den Eltern zu sehen, macht er sich also auf den Weg hinaus, trifft zunächst auf viele Bauarbeiter, die das Elternhaus offenbar neu gestalten sollen, auf seine Mutter, die in hektische und dennoch irgendwie ziellose Betriebsamkeit verfallen ist und den Vater, der gelassen zuschaut und ansonsten versucht, seinen schlechten Gesundheitszustand zu überspielen. Nachdem er Tobias‘ Hilfsangebote einige Male nachdrücklich und höchst rüde abgewiesen hat, erklärt er sich eines Nachts überraschend doch bereit, ins Krankenhaus zu gehen. Dort verstirbt er dann nach kurzer Zeit. Am Ende trifft die Familie dann anlässlich eines freudigeren Ereignisses zusammen: Julia und Christian haben ein zweites Kind bekommen, und wir sehen als letztes die Oma mit dem Neugeborenen auf dem Arm, ein wenig ratlos und verloren.

 

   Ein wenig ratlos fand auch mich am Ende eines Films, der ganz sicher blendend inszeniert und gespielt ist, der mich aber insgesamt irgendwie nicht ganz erreicht hat. Warum – schwer zu sagen. Bergers Regie ist wunderbar klar, einfach, zurückhaltend und dennoch mit dem richtigen Gespür für Momente und Stimmungen. Und sämtliche Darsteller legen ihre beträchtliche Erfahrung und Klasse in die Waagschale – und trotzdem… Familienfilme, also ich meine gute Familienfilme sind gar nicht leicht zu bewerkstelligen, denn fast jeder von uns hat dazu eigene Erfahrungen, Meinungen, Erinnerungen, Assoziationen, und der Filmemacher hat folglich die Aufgabe, eine möglicherweise sehr persönliche Geschichte so zu transportieren, dass sie entweder Allgemeingültigkeit hat oder uns Zuschauer auf jeden Fall auf die eine oder andere Weise bewegt. Und gerade letzteres ist Edward Berger überraschend wenig gelungen, jedenfalls in Bezug auf mich. Er versammelt eine beachtliche Anzahl an Krisen, Dissonanzen, Konflikten, die uns in verschiedener Form auch schon in verschiedenen ähnlichen Filmen begegnet sind. Existentielle Wendepunkte, Kurzgeschichten, die eine größere Geschichte durch ein Brennglas reflektieren, Verluste oder Scheitern in unterschiedlichsten Ausprägungen - alles da, was es für ein handfestes zweistündiges Familiendrama braucht. Aber erstens reißt Berger hier sehr viele potentiell spannende und ausbaufähige Themen an und belässt es dann dabei, hat auch gar keine Zeit, sich irgendeiner Sache intensive zu widmen, denn hier muss in verhältnismäßig kurzer Zeit eine Menge angerissen werden, und so wird kaum etwas mal ausgeführt geschweige denn einem Ende gebracht. Und zweitens komme ich den drei Geschwistern menschlich irgendwie nicht recht nahe, habe ich die eher distanzierte Haltung der Regie teilweise als unangenehm empfunden. Vor allem Julia kommt ziemlich schlecht weg, ist anfangs einfach nur eine gestresste, neurotische, einfältige Kuh, bis wir dann erfahren, dass sie ein Kind verloren hat und wir unser Urteil zwangsläufig revidieren müssen; aber näher kommt sie mir damit nicht. Mit den beiden Brüdern geht’s mir ganz genau so – ich finde immer eine Erklärung  oder besser eine Ursache für ihr Verhalten – und zwar in dem Moment, als Manfred Zapatka auf seine unnachahmliche Art einen kalten, herablassenden, egozentrischen Vater skizziert, der sicherlich alle möglichen schadhaften Strukturen zu verantworten hat. Der ältere Bruder ist geflüchtet, hat sich distanziert und tobt sich tüchtig aus, der jüngere hält noch vage Kontakt, fühlt sich eher zuständig, kriegt aber zur Strafe dafür die volle Verachtung seines Vaters aufs Haupt. Das ist ein verstörender Moment, der aber verpufft, weil Paps kurz darauf im Hospital landet und es zu keiner klärenden Auseinandersetzung kommen kann. Ich hatte im Verlauf des Films immer so meine Momente, wo ich gern tiefer in die Materie eingestiegen wäre, doch das ist niemals passiert, und letztlich entwickelte ich eine gewisse Gleichgültigkeit den Personen und ihren Erlebnissen gegenüber. Erst recht, als Julia und Christian ziemlich überraschend ein zweites Kind präsentieren, was in keiner Weise zu erwarten gewesen war und als Schlusspunkt auch eher irritierend ist, denn ich habe mich kurz gefragt, wo ich das nun einsortieren soll – wird’s ein Neuanfang, der die Geschwister wieder näher zusammenbringt, oder wie wird’s weitergehen? Ich habe mich dabei ertappt, dass mich diese Frage nicht allzu lange noch beschäftigt hat, was allgemein kein sonderlich positives Zeichen für die Wirkung des Films ist. Viel Potential also, viel Kompetenz und Kunstfertigkeit, doch ein für mich überzeugendes Ganzes ist nicht daraus entstanden. (31.5.)