Als Hitler das rosa Kaninchen stahl von Caroline Link. BRD, 2019. Riva Krymalowski, Marinus Hohmann, Carla Juri, Oliver Masucci, Ursula Werner, Justus von Dohnányi, Rahel Hubacher, Hannah Kampichler, Peter Bantli, Anne Bennent, Benjamin Sadler

   Die Geschichte der jüdischen Familie Kemper (i.e. Kerr), die noch einige Tage vor Hitlers Machtergreifung aus Berlin flieht, zunächst in der Schweiz landet, später in Paris, um 1935 endgültig rüber nach England zufahren und dort endlich wieder heimisch zu werden. Der Vater ein berühmt-berüchtigter Theaterkritiker (klar, Alfred Kerr, aber der Groschen fiel bei mir erst im Abspann…), der klar vor Augen hat, dass er bei den Nazis im Falle ihres Wahlsiegs augenblicklich auf der schwarzen Liste stünde, die deutlich jüngere Mutter eine lebensfrohe Pianistin, und die beiden Kinder Max und Anna, die diese, ihre Geschichte erzählen wird, so wie Judith Kerr schlussendlich ihren berühmten autobiographischen Roman verfasste, der lange Jahre Standardlektüre war, in letzter Zeit für mein Empfinden aber deutlich in Vergessenheit geraten ist. Vor vierzig Jahren schon mal verfilmt und mit Leuten wie Martin Benrath und Elisabeth Trissenaar prominent besetzt, jetzt aber mal für’s große Kino und von einer Regisseurin, die schon mehrfach ihr besondere Fähigkeit gezeigt hat, auch etwas komplexere Vorlagen so umzusetzen, dass Verstand und Gefühl gleichwertig zum Zuge kommen, die vor allem häufiger bewiesen hat, wie glänzend sie mit jungen Schauspielern umzugehen versteht, und das ist hier natürlich von zentraler Bedeutung.

  Die Flüchtlingsgeschichte ist zeitlos und heutzutage natürlich aktueller denn je, die Flucht vor befürchtender Gewalt und Repression, die Flucht in die Heimatlosigkeit, die Suche nach einer neuen Heimat und die vielen Schwierigkeiten bei dieser Suche. Vielleicht werden wir nie wieder irgendwo ganz zuhause sie, sagt Vater Kemper einmal, vielleicht an vielen Orten nur ein bisschen. Wie so viel andere jüdische Bürger ziehen sie in diesen Jahren rastlos durch Europa und müssen erfahren, dass Antisemitismus nicht nur in Deutschland beheimatet ist. Auch die bissige Parier Concierge und die skurrile österreichische Nachbarin im Pariser Mietshaus äußern sich herablassend und offen feindselig. Im Schweizerischen Bergidyll werden sie zwar freundlich und gütig aufgenommen, Vater Kemper jedoch bekommt partout keine Arbeit, nicht zuletzt wohl deshalb nicht, weil die Schweizer es nicht mit dem kriegerischen Nachbarn verderben wollen. Und so werden Max und Anna nicht weniger als dreimal aus ihrem Leben gerissen, um auszubrechen und irgendwo anders neu anzufangen. Erst die schmerzhafte Trennung von der Heimat in Berlin, vor allem der geliebten Haushälterin Heimpi und den Schulfreunden, dann die gefährliche Zugfahrt in die Schweiz, wo der Vater schon auf sie wartet und auf der die Kinder sich um Himmels Willen nicht verplappern dürfen. In der Schweiz wird schnell klar, dass die Familie hier kein Auskommen haben wird, und obwohl die Kinder hier recht schnell Anschluss finden und sich wohl fühlen, müssen sie erneut loslassen und in die fremde Großstadt mit der ganz fremden Sprache und der fremden Kultur, in der sie sich deutlich schwerer zurechtfinden. Die Familie lebt ärmlich, der Vater findet kaum Arbeit und sein Stolz will es ihm verbieten, sich von wohlhabenden jüdischen Emigranten unter die Arme greifen zu lassen. Max und Anna schaffen es dennoch, Fuß zu fassen, sind in der Schule nach großen Anlaufschwierigkeiten erfolgreich, und gerade als sie beginnen, sich an dieses neue Leben zu gewöhnen, müssen sie schon wieder loslassen und über den Kanal nach England schippern. Immer wieder neu anfangen und wieder Abschied nehmen, von neuem hoffen und wieder ernüchtert werden, neue Sprachen, neue Regeln, überall als Außenseiter ankommen und sich wieder annähern, hineinarbeiten in Schulklassen, Nachbarschaften, Freundeskreise. Und immer die Frage, was kommen wird, ob dies jetzt die endgültig letzte Station bleiben wird oder ob ein weiterer Umzug bevorsteht. Die Kinder wissen letztlich nicht um die konkrete Bedrohung durch die Nazis, doch halten die Eltern sie auch nicht ahnungslos, sodass ihnen schon bewusst ist, dass sie als Juden in Gefahr sind. Spätestens, als sie in Paris vom Selbstmord ihres guten Freundes Onkel Julius erfahren, verstehen auch Max und Anna, dass an eine baldige Rückkehr nach Berlin nicht zu denken ist.

   Judith Kerr hat eine exemplarische Geschichte aus der Sicht eines zehnjährigen Mädchens beschrieben (aus ihrer eigenen Sicht eben), und Caroline Link hat eine kongeniale Leinwandversion geschaffen. Sie erzählt sehr gefühlvoll (vielleicht mit ein bisschen zuviel Musik hier und da), aber niemals kitschig, sie kann die Substanz der Erzählung in prägnante, ausdrucksstarke Szenen fassen, sie hat zwei Stunden erstaunlich kurz werden lassen, weil man dem Geschehen die ganze Zeit über sehr gespannt und bewegt folgt, und sie hat einmal mehr die richtigen Schauspieler gefunden und vor allem das richtige Händchen für die Kinder bewiesen. Ohne jegliches süßliche Getue, wie es sonst häufig vorkommt, wird die kindliche Perspektive in den Vordergrund gestellt, was zugleich bedeutet, dass die Erwachsenen mit ihren Themen und Sorgen und Konflikten gleichsam durch diesen Filter gesehen werden. Das ganze Drama der Judenverfolgung durch die deutschen Nazis erfährt hier eine radikal persönliche Sichtweise, genau wie das titelgebende rosa Kaninchen gleichsam eine Metapher für einen ungleich größeren und universelleren Verlust ist. Genau wie die Familie im Ganzen immer wieder ihre Heimat verliert, verliert auch Anna immer wieder Freunde, eine vertraute Umgebung, eine mühsam angeeignete Sicherheit, die sie dann am nächsten Ort erst wieder aufbauen und erkämpfen muss.

 

   Ein alles in allem wirklich beeindruckender, bewegender Film, der seinem Konzept vollauf gerecht wird und der eine Geschichte erzählt, die man nicht oft genug erzählen kann, egal in welchem Kontext und vor welchem konkreten historischen Hintergrund auch immer. Es gibt so viele Variationen der Themas Flucht und Flüchtling, dass es sinnlos wäre, den Grad des Leids beispielsweise miteinander zu vergleichen. Jede Geschichte steht allein für sich, und daran werden wir hier einmal mehr mit Nachdruck erinnert. (28.12.)