Amazing Grace von Sidney Pollack und Alan Elliott. USA, 1972/2018.

   Anfang 1972 nahm Aretha Franklin in einer Baptistenkirche zu Los Angeles zusammen mit Reverend James Cleveland, dem Southern California Community Choir und einer Reihe erstklassiger Sessionmusiker das epochale Doppelalbum „Amazing Grace“ auf, das sie gleichsam zurück zu ihren Wurzeln führt und sie als Sängerin in einer ursprünglichen, elementaren Intensität zeigt, die sie sonst kaum jemals erreicht hat – und das will wirklich mal was heißen. Sidney Pollack sollte die Aufnahmen in der Kirche an zwei Tagen filmen und daraus einen TV-Film montieren, doch technische Probleme (genauer gesagt die nicht funktionierende Synchronisation von Film- und Tonspur) verhinderten das, und für mehr als viereinhalb Jahrzehnte verschwanden die Filmrollen im Archiv, bis moderne Technik die Defekte beheben und uns in den glücklichen Stand versetzen konnte, der größten Sängerin der Popgeschichte doch noch bei der Arbeit zuschauen zu dürfen.

   Das Schöne – neben allem anderen – ist, dass ich gar nicht viele Worte darüber verlieren muss. Der Film steht ganz für sich selbst: Ein Dokument aus der Musikgeschichte, eindrucksvoll, ungekünstelt, ganz in den Dienst der Sache gestellt. Die Crew wuselt in der Kirche zwischen den Gottesdienstbesuchern, Chorsängern und Musikern herum, Pollack ist gelegentlich mal zu sehen, auch andere Prominenz wie Mick Jagger oder Charlie Watts, doch die Bühne gehört zum allergrößten Teil der Sängerin, dem temperamentvollen und reichlich omnipräsenten Reverend und den enthusiastischen Chorsängern, die genauso mitgehen wie die Leute unten in den Bankreihen.  Denn natürlich ist dies weder ein gewöhnlicher Gottesdienst noch eine simple Aufnahmesession, dies die die phänomenale Mixtur aus beidem und vielleicht die überzeugendste Veranschaulichung der Tiefe und Bedeutung der Gospelmusik, die in diesem Falle auch Songs aus dem Soul- und Popbereich umfasst und sich zu eigen macht. Der Begriff „mitreißend“ wurde für Gelegenheiten wie diese erfunden.

 

   Über Aretha Franklin als Sängerin muss wirklich nichts mehr gesagt werden, doch was sie hier singt, eher wie sie hier singt, ganz bei sich, mit vollkommener Konzentration und streckenweise fast introvertiert, ist nochmal eine Klasse für sich und einfach atemberaubend. Genauso eindrucksvoll sind die Reaktionen des Publikums, zum größten Teil Schwarze vermutlich aus der Gemeinde, die sich hier in eine kollektive spirituelle Ekstase hineinsteigern, die für mich zugleich erschreckend und faszinierend ist. Da ich unabhängig von der jeweiligen Konfession mit jeder Form von religiöser Inbrunst so gar nichts anfangen kann und mir diese extrem intensiven Aufwallungen grundsätzlich eher suspekt sind, bleibt mir vieles von dem hier emotional fremd, dennoch kommen die spontanen Entladungen auch zur mir rüber, einfach  weil die Musik so großartig ist, und weil ich durchaus nachfühlen kann, wie sie wirken, was sie auslösen mag. Pollack und seine Kameraleute haben nicht viel mehr getan, als all das einzufangen und zu montieren, sie haben nichts kommentiert, keine konstruierten Geschichten dazu gebastelt, und das empfinde ich als höchst angenehm, denn so kann ich mich voll und ganz auf die Sängerin, die Musik, die Atmosphäre konzentrieren. Mehr muss eine solche Dokumentation gar nicht leisten, vor allem dann nicht, wenn es um eine solch historische Aufnahme geht, einen jener Momente, in denen viele Dinge zusammenfallen und magische neunzig Minuten, sowohl auf Platte als auch auf Zelluloid hervorbringen. Fans von Aretha und Gospelmusik müssen sich das sowieso anschauen, gar keine Frage, aber auch solche, die mehr über die besondere Stimmung bei schwarzen Gottesdiensten erfahren wollen oder über das, was Musik und Gesang ausrichten können, sind hier richtig. Leider musste Aretha erst sterben, bis der Film zur Aufführung freigegeben wurde, denn sie hatte zu Lebzeiten zweimal das Ansinnen des Produzenten Alan Eliott abgelehnt, ihn zu veröffentlichen. Immerhin ist das nun aber geschehen, und darüber können wir froh sein. (18.12.)