Jiānghú érnǚ (Asche ist reines Weiß) von Jia Zangke. China/Frankreich, 2018. Zhao Tao, Liao Fan, Feng Xiaogang, Xu Zheng, Zhang Yibai, Yi’nan Diao
Die Geschichte von Qiao und Bin über ungefähr anderthalb Jahrzehnte bis heute. Die beiden leben in Datong, das ist eine chinesische Kleinstadt (ca. dreieinhalb Millionen Leute) im Norden, eine Kohlebergbaustadt im Umbruch, sprich ohne Jobs. Bin ist ein Gangster, Boss einer größeren Bande und als solcher ständig in Konkurrenz mit anderen Banden. Ein cooler, selbstbewusster Typ. Qiao ist seine Freundin und voll in seine Geschäfte integriert. Sie hat Träume von der Zukunft. Ein cooles, selbstbewusstes Mädchen. Er organisiert sich eines Tages, nachdem er völlig unvorbereitet eins mit der Eisenstange vors Knie gekriegt hat, eine Knarre, und sie weiß schon, dass die noch Unglück bringen wird. Und so kommt es auch - wenigstens zum Teil. Eine gegnerische Bande überfällt ihr Auto, er wird halbtot geprügelt, und sie weiß sich nicht anders zu helfen als die Pistole zu ziehen und in die Luft zu ballern. Damit rette sie sein Leben, verpfuscht aber zugleich ihr eigenes, denn auf unerlaubten Waffenbesitz stehen fünf Jahre Knast, und sie brummt sie ab, ohne ein einziges Mal von ihm Besuch zu kriegen, obwohl er mit einem Jahr davongekommen ist. Auch am Tag ihrer Entlassung wartet er nicht am Tor, wie sie erhofft hatte, und also macht sie sich verbittert auf die Suche. Sie reist quer durchs Land, findet ihn tatsächlich, doch findet einen gänzlich veränderten Bin, der ihr ausweicht, der sich eine andere Frau gesucht hat und ihr mit schwachen Erklärungen kommt, weshalb er nicht auf sie warten konnte. Erschüttert setzt sie sich in den Zug, fährt ziellos weiter durchs Land, erlebt das eine oder andere skurrile Abenteuer, landet am Schluss aber wieder in Datong. Sie hat sich gefangen, macht wieder ein Geschäft auf, sammelt die Übererste der alten Bin-Gang um sich – und eines Tages ist er auch wieder da, nach einer Hirnblutung im Rollstuhl hockend, jammernd und frustriert, weil ihm die Frau weggelaufen und er nur noch ein Haufen Elend ist. Qiao nimmt ihn auf, umsorgt ihn, behauptet jedoch, nichts mehr für ihn zu empfinden und ihn einzig aus Anstand zu verpflegen. Mit Hilfe eines Arztes kommt er sogar wieder ein bisschen auf die Beine, und eines morgens ist er weg, diesmal wohl endgültig.
Zugegeben, diese fast zweieinhalb Stunden sind nicht gerade leicht verdaulich – spröde Erzählweise, sperrige Zeitsprünge, eigensinnige Charaktere, die auch nicht bis in den letzten Winkel erforscht werden wollen und sich einander und uns höchstens bruchstückhaft mitteilen. Andererseits sind dies extrem interessante und aufschlussreiche zweieinhalb Stunden, zwischendurch immer mal auch sehr unterhaltsam und höchst spannend gemischt mit Zeitkritik, Milieustudien, bizarrer Komik und einer Liebesgeschichte, die sich irgendwie in den Jahren verliert. Und das ist auch das Thema, das mir beim Zusehen am deutlichsten ins Auge sprang: Verlust, verlieren, verloren. Qiao und Bin, die nicht nur einander verlieren, die auch ihre Träume verlieren, ihren Optimismus, ihre Selbstsicherheit, ihre Coolness. Qiao verliert fünf lange Jahre ihres Lebens, Bin verliert seinen Stolz. Und während Qiao sich wenigstens ein Stück weit zurückkämpft ins Leben und in die Gesellschaft, scheint Bin den Anschluss verloren zu haben – seine Flucht am Schluss heißt ja noch lange nicht, dass er für sich einen konkreten Plan hat. Er erträgt es bloß nicht, von Qiao abhängig zu sein, von ihr versorgt zu werden, täglich mitansehen zu müssen, dass sie doch die Stärkere von beiden ist. Verloren scheinen mir die Menschen im Allgemeinen zu sein, in einem Riesenland, das sich immerzu weiterbewegt, das sich rasend verändert, in dem es wimmelt und wuselt und drängelt. Die Szene ist häufig voller Menschen, jeder einzelne von ihnen jedoch scheint irgendwie verloren zu sein. Eine Zugfahrt versinnbildlicht das neue China, das China von heute auf brillante Weise. Ein überaus redseliger und neugieriger Herr gesellt sich zu einer willkürlich versammelten Gruppe, zu der auch Qiao gehört, und schwadroniert von seinen großen Plänen von wegen UFOs und Tourismus, und er nimmt sich besonders Qiao vor, die behauptet, selbst schon mal ein UFO gesehen zu haben, und die er dringend übererden möchte, aus der ausweglosen, abgewirtschafteten Kohlestadt Datong wegzugehen und in den Süden, denn dort wird nun das große Geld gemacht. Vorher schon sehen wir den im Entstehen befindlichen Dreischluchtenstaudamm, wir sehen die imposanten Bauwerke rundherum, hören die stolzgeschwellten Ansagen der Reiseführer, sehen aber auch die Bewohner jener Orte, die noch evakuiert werden, sehen ganz einfache Leute, die nun entwurzelt sind, weil ihre Heimat dem Prestigeprojekt zum Opfer fallen wird. Wir sehen ein China zwischen Abbruchhalden, öden Industriegegenden, heruntergekommenen gigantischen Wohnkomplexen und futuristischen Protzbauten, modernsten Bürotempeln, fast schon westlich erscheinenden Metropolen. Eine unheimlich mobile Gesellschaft, ständig unterwegs von Hier nach Dort, und dazwischen erscheinen als scharfer Kontrast Bilder von großen, leeren, ruhigen Landschaften, die auf eine ganz andere, archaische Basis verweisen. Der Erzählstil formt diese ständigen Gegensätze perfekt aus, baut für uns aber keine Brücken, lässt diese Gegensätze mit voller Wucht wirken und lässt uns so verstehen, dass es nicht nur ein China gibt und dass die enorme Spannung zwischen Vergangenheit und Zukunftswahn jeden einzelnen Menschen dort betrifft und bewegt.
Inmitten dieses komplexen und sehr anregenden Szenarios wird also die Geschichte von Qiao und Bin ausbereitet, und am Ende erscheinen mir die beiden als sehr überzeugend ausgewählte Produkte ihrer Landesgeschichte zu sein. Das hier ist keine Glamourstory, keine Erfolgsgeschichte, es ist für allem für Qiao, die deutlich im Mittelpunkt steht, ein langer und unendlich zäher Kampf um ihre Würde und eine Zukunft, und wir verstehen auch, dass sie mit diesem Kampf alles andere als allein steht, sondern dass sie alle auf ihre Weise diesen Kampf zu bestehen haben. Die einen machen das schnelle, große Geld, andere versinken in Kriminalität oder Anonymität. Ich kann mich an überhaupt keinen chinesischen Film erinnern, der mir ein ähnlich komplexes und vitales Gegenwartsbild dieses Landes vermittelt hat. Das liegt vor allem daran, dass so wenig chinesische Filme zu uns kommen, und wenn doch, dann sind‘s häufig opulente Historienfilme, sehr hübsch anzusehen, aber bestenfalls mit indirektem Bezug zum Hier und Jetzt. Jia Zangke hat so gesehen einen ziemlich herausragenden Film gemacht, und ich wäre wirklich interessiert an weiteren Beispielen für aktuelles chinesisches Kino. Das wird aber wohl nur klappen, wenn es irgendwo prestigeträchtige Preise gegeben hat. Dieser hier lief 2018 im Wettbewerb von Cannes, was ihm dann wohl die nötige Aufmerksamkeit eingetragen hat. (4.3.)