Mon bébé (Ausgeflogen) von Lisa Azuelos. Frankreich/Belgien, 2019. Sandrine Kiberlain, Thaïs Alessandrin, Camille Claris, Victor Belmondo, Patrick Chesnais, Kyan Khojandi, Mickaël Lumière, Yvan Attal

   Ein Film eher für Mamas – aber nicht nur. Papas haben auch ein Herz, selbst wenn gern Gegenteiliges behauptet wird, und auch für sie ist der Tag, an dem ihr letztes Kind hinaus in die weite Welt fliegt, ein besonderer Tag. Das Kino macht aus sowas gern die ganz große Gefühlsoper, und selbst wenn sich das reale Leben glaube ich auf einem niedrigeren Level abspielt, lassen sich auf jeden Fall schöne, menschliche und gern auch etwas rührende Familienfilme daraus machen. Lisa „LOL“ Azuelos ist ein solcher gelungen, einer mit viel Herz und offensichtlich auch sehr persönlichem Bezug.

   Héloïse hat es geschafft, nach der Trennung vom Ehemann ihre drei Kinder durchzubringen und ein einigermaßen lebensunterhaltssicherndes Restaurant zu schmeißen. Ihre beiden Ältesten Lola und Theo hat sie schon ziehen lassen müssen, doch jetzt ist die Jüngste dran, Jade, die macht gerade Abi und hat just die Zusicherung aus Montréal für einen Studienplatz gekriegt. Und plötzlich trifft Maman der Schlag, sie gerät in einen wahren Strudel aus Panik, Erinnerungen, wilden Gefühlszuständen, Ängsten, und da ihre Mädelsclique auch recht temperamentvoll ist und die beiden anderen Kinder sie auch nicht wirklich beruhigen können, durchlebt sie eine aufreibende Zeit zwischen jetzt und damals, bis sie ihre Kleine, ihr Baby am Flughafen in die Freiheit entlässt. Wer sowas in der Art selbst erlebt hat, kennt dieses Hin und Her genau – einerseits wünscht man ihnen alles erdenklich Gute für die Zukunft und möchte natürlich auch, dass sie auf eigenen Beinen stehen, andererseits möchte man sie ewig halten und behüten und ruft sich plötzlich all die unendlich vielen kleinen schönen und schmerzhaften Momente in Erinnerung, die man im Laufe der Jahre durchlebt und deren wirklichen Wert man niemals erkannt hat bis heute, wo jede gemeinsame Sekunde kostbar ist und deswegen unbedingt mit dem Smartphone gefilmt werden muss. All das geht in typisch französischer Schlagzahl von statten, soll heißen, Mama Héloïse ist abwechselnd nervtötend und wunderbar, ein Nervenwrack und übermenschlich stark, randvoll mit Sorgen und Befürchtungen und großartig tough und geistesgegenwärtig. Vor Jades ätzender Lehrerin legt sie ein Szene hin, die man ihr nie zugetraut hätte, wenn man zusieht, wie wuschig und chaotisch sie sonst oft durchs Leben strauchelt. Mit den Männern klappt’s nicht mehr so recht, weil eben drei Kinder da sind und sie sich als Frau nicht mehr viel zutraut. Mit den Mädels haut sie gelegentlich auch mal auf die Sahne, aber letztlich ist sie hauptberuflich Mama, und deshalb muss sie sich häufiger die Frage stellen lassen, ob sie denn bei alledem auch noch ein kleines bisschen Leben für sich selbst habe. Wie die Antwort darauf aussieht, versucht das letzte Bild des Films zu zeigen, in dem eine entschlossene und optimistisch dreinblickende Heloïse nach dem schweren Abschied in die Zukunft geht, offensichtlich voller Mut und Tatendrang.

   Eine tolle Hommage an Frauen und Mütter, voller Gefühl, Humor und Empathie. Azuelos hat sich nicht allzu sehr um sowas wie eine stringente Dramaturgie gekümmert – im Grunde wird hier gar keine Geschichte erzählt, es werden Momente, Szenen, Augenblicke montiert und mit ähnlichen Szenen von früher assoziiert. Auch würde ich dem Drehbuch nicht gerade besonders viel Tiefgang attestieren, aber darum geht es hier wohl auch gar nicht. Es geht um Familie, um Liebe und Zusammenhalt und um das, was uns zusammenhält und aneinander bindet, trotzt aller kleinen und großen Krisen, trotz der täglichen Zickereien, der endlosen Stresssituationen, jener Momente, in denen man die ganze Brut am liebsten zur Hölle wünschen würde. Einerseits versucht man, ein Gefühl für immer einzukapseln und zu konservieren, andererseits weiß man vernunftsmäßig ganz genau, dass das nicht geht, dass sich immer alles ändert und dass sich die verloren geglaubte Zeit niemals zurückdrehen lässt. Wir sind gefragt, die Augenblicke zu genießen, ihren Wert zu erkennen und wahrzunehmen. Gerade wir Eltern möchten manches am liebsten festhalten und sollten uns eher auf das freuen, was als nächstes kommt, denn so süß die Kleinen auch sind, nichts ist spannender als die Fr

Age, was wohl als nächstes passieren, wie sich die Beziehung zu den Kindern entwickeln wird. Die Vorfreude in Héloïses Gesicht ist daher vollkommen nachvollziehbar. Azuelos macht die durchaus vorhandene Spannungslosigkeit ihres Drehbuchs wett durch ihren liebevollen, witzigen, schlagfertigen und gefühlvollen Inszenierungsstil. Vielleicht trägt sie hier und da ein wenig zu dick auf, aber sie ist halt mit Leib und Seele beim Thema, und falsche Töne habe ich persönlich auch nicht wahrgenommen. Sandrine Kiberlain legt eine tolle Performance hin, aber um sie herum tummeln sich auch jede Menge wunderbarer Typen, sodass „Mon bébé“ jenseits aller leidigen Wohlfühlambitionen einfach ein unheimlich liebenswerter, sympathischer Film ist, der seine Liebe zum Thema und den Menschen hier entwaffnend direkt und ungefiltert zu uns rüberbringt. Und wenn das mal so ist und ich nicht in jeder Szene das öde kommerzielle Kalkül der Wohlfühlindustrie sehe, dann kann ich damit auch gut und gerne leben. (22.7.)