Di jiu tian chang (Bis dann, mein Sohn) von Wang Xiaoshuai. China, 2019. Wang Jingchun, Yong Mei, Qi Xi, Wang Yuan, Du Jiang, Ai Liya, Xu Cheng, Li Jingjing, Zhao Yanguozhang
Ein wundersames und wunderbares Beispiel dafür, wie man zugleich eine ganz kleine, private Geschichte und die Geschichte eines ganzen Landes erzählen kann, zumindest in Ausschnitten. Was auf der einen Seite die Geschichte zweier verwandter Familien sein könnte, wächst über drei Stunden zu einem wahren Epos über gut dreißig Jahre chinesischer Geschichte aus, ohne diesen Anspruch explizit zu formulieren, doch gehen die Erfahrungen und Erlebnisse dieser Menschen hier deutlich über den individuellen Rahmen hinaus.
Diese beiden Familien (Bruder und Schwester mit ihren jeweiligen Ehepartnern und jeweils einem Sohn) leben und arbeiten nahe beieinander in einer Industriestadt im Norden. Man lebt in einfachen Arbeiterwohnungen, teilt beruflichen privaten Alltag weitgehend und lässt vor allem die gleichaltrigen Söhne wie Brüder aufwachsen. Im Wesentlichen sind es dann zwei Ereignisse, die das Leben dieser beiden Familien bis in die jetzt-Zeit prägen werden: Beim Spielen am nahegelegenen Stausee ertrinkt einer der beiden Jungen. Seine Mutter war zuvor erneut schwanger geworden, doch ihre Schwägerin hatte als Betriebsbeauftragte für die rigorose Ein-Kind-Politik des Regimes eine Abtreibung durchgesetzt, durch deren Komplikationen die Frau keine Kinder mehr gebären konnte. Die vermeintliche doppelte Schuld am Schicksal ihrer Verwandten wird die andere Familie bis zuletzt begleiten. Kurz darauf werden in der Fabrik, in der sie alle beschäftigt sind, zahlreiche Stellen abgebaut, und nicht nur deshalb beschließt das fortan kinderlose Ehepaar, in den Süden zu ziehen und neu anzufangen. Sie leben nun in einer kleinen Hafenstadt, arbeiten dort und haben einen Jungen adoptiert, dem sie den Namen ihres verstorbenen Sohnes gegeben haben. Als der junge in der Pubertät immer trotziger und zorniger wird, beschließen die beiden, ihn freizugeben, ihm seinen Ausweis auszuhändigen und ihn ziehen zu lassen. Der Ehemann erhält Besuch von einer ehemaligen Praktikantin in ihrer Heimat, mit der er damals eine Affäre hatte und die er nun bei einer neuerlichen Begegnung schwängert. Sie bietet ihm ihr Kind als Ersatz für den toten Sohn an, weil sie in die USA emigrieren will, doch er lehnt ab. Später wird sie das Kind in den Staaten zur Welt bringen, und es den Leuten daheim per Skype präsentieren, wobei nicht ganz sicher ist, ob jemand außer den beiden Eltern die Wahrheit erahnt. Als die Schwägerin in der Heimatstadt im Norden schwerkrank daniederliegt und auf den Tod wartet, können die beiden Eheleute überredet werden, zurück zu kommen, und tatsächlich beziehen sie wieder ihre alte Wohnung in dem Arbeiterblock, der weitgehend verwaist und verkommene ist. Ein paar Dinge können noch geklärt, ein paar Klarstellungen und Entschuldigungen vorgebracht werden, bevor die Frau stirbt, doch bald schon gibt es eine Geburt zu feiern, und das Leben wird weitgehen. Die Eheleute besuchen das ebenfalls heruntergekommene Grab ihres Sohnes nahe der neuen Autobahn hoch über ihrer alten Stadt, die sie nicht mehr wiedererkennen, weil alles so neu und modern geworden ist. Sie bekommen einen Anruf ihres Ersatz-Sohnes, der sie wieder in den Süden lockt, denn dort sind sie mittlerweile mehr zuhause, und der Ersatz-Sohn könnte zudem die Werkstatt seines Adoptivvaters weiterführen.
Das Leben geht immer weiter, Menschen in ihrer Zeit, im Wandel. Zweieinhalb Jahrzehnte nach Zhang Yimous großartigem „Leben!“ geht dieser Film nun inhaltlich in eine ähnliche Richtung, wobei er fast noch eine ganze Stunde draufgepackt hat, also gute drei Stunden läuft, und natürlich auch unter ganz anderen Bedingungen entstand – oder…? Regisseur Wang begleitet seine beiden Familien und dazu Arbeitskollegen, Freunde und andere Verwandte durch drei Jahrzehnte von der Spätphase des reinen Kommunismus bis heute, von der Ein-Kind-Politik mit ihren zum Teil katastrophalen Folgen für einzelne Betroffene bis hin zu den Umwälzungen in Richtung einer wie auch immer gearteten „modernen“ Industriegesellschaft. Politik muss hier auch gar nicht offen zur Sprache kommen, jedenfalls zumeist nicht, sie wird’s an jeder Ecke sichtbar in den Lebensumständen der Leute. Von der traditionellen blauen Einheitskleidung der arbeitenden Bevölkerung bis hin zu den tristen Wohntürmen und den spartanischen, ärmlichen Innenräumen. Der Mensch geht programmgemäß in der Masse unter, als Individuum zählt er nichts, als Arbeitskraft ist er entbehrlich und austauschbar, und wer aus der Reihe tanzt wie zum Beispiel der Herr mit der langen Haartolle, den extravaganten Klamotten und den Musikkassetten mit westlicher Popmusik, wird alsbald inhaftiert und auf Linie getrimmt. Von Hinrichtungen raunt man sich unter vorgehaltener Hand zu, und obwohl man tief drinnen viel lieber heulen und schreien möchte, akzeptiert man schlussendlich die Auszeichnung für besondere Verdienste für die Ein-Kind-Politik, die ja nur Produkt eines massiv schlechten Gewissens ist.
All das sind wie gesagt nur Hintergrundgeräusche, betten diese Lebensgeschichte ein, begleiten und formen sie durchaus, doch scheint es in erster Linie doch um Menschen zu gehen, um einzelne, konkrete Menschen, die gleichwohl stellvertretend für Millionen anderer stehen. Dieser Film ist dabei so bewegend gespielt und so großartig inszeniert, dass ich Wangs Kunstgriff, die Chronologie stark zu splitten, fast schon bedauert habe. Die Erzählung springt häufig und stark zwischen den verschiedenen Zeitebenen, vieles verstehe ich erst viel später, viele Zusammenhänge werden mir nicht sofort klar, und so fand ich meinen emotionalen Zugang mitunter ein wenig erschwert. Ein ganz konventionell strukturiertes Epos hätte es hier meiner Meinung nach auch getan, vor allem wenn sich unsereiner mit chinesischen Namen und Gesichtern eh schwer tut und auf die zusätzliche Herausforderung durch die ewige Zerstückelung hätte verzichten können. Aber gut, das ist die Entscheidung des Filmemachers, die akzeptiere ich, und abgesehen davon ist dies natürlich ein außerordentlich eindrucksvolles Kinoerlebnis, sehr zurückhaltend gestaltet und dabei dennoch voller Gefühl und in seinem langen Atem über die gesamte Spielzeit mitreißend und berührend. Chinesische Filme sind ja leider eine seltene und kostbare Ware in unseren Kinos. Und wer weiß, ob dieser hierzulande überhaupt eine Chance gehabt hätte, wenn er in Berlin keine Preise gewonnen hätte… (20.11.)