Le semeur (Das Mädchen, das lesen konnte) von Marine Francen. Frankreich, 2017. Pauline Burlet, Alban Lenoir, Géraldine Pailhas, Iliana Zabeth, Françoise Lebrun, Anamaria Vartolomei, Raphaëlle Agogué, Barbara Probst, Margot Abascal, Mama Prassinos, Théo Costa Marini
Der französische Originaltitel bringt‘s auf den Punkt – „Der Sämann“, genau darum geht’s. Und so hätte der Film problemlos auch auf Deutsch heißen können. Immer häufiger frag ich mich, was in den Hohlköpfen der deutschen Verleiher vor sich geht, dass die so verzweifelt danach trachten, jeden Filmtitel auf Wohlfühlformat zurechtzubiegen. Das Ergebnis ist oft so absurd und irrelevant, dass es fast schon wieder lustig ist (siehe auch „Die Schneiderin der Träume“…). Aber egal, dieser Ärger verraucht und hat ganz und gar nichts mit dem Film selbst zu tun.
Denn der ist ganz wunderbar, ähnlich wie oben „Mary Shelley“ ein ausgesprochener Sinnengenuss, ein einziges archaisch-poetisches Tableau, im altmodischen Format gedreht und nicht nur dadurch eine sehr glückliche Erinnerung an die vielen großartigen französischen Filme der 80er und 90er, die durch den unglücksseligen Trend der letzten Zeit leider ziemlich ins Vergessen geraten sind.
Ein entlegenes Bergdorf in der Provence, 1851: Aus Napoléon Bonaparte, dem Staatspräsidenten der Zweiten Republik ist nach seinem Staatsstreich Kaiser Napoléon III geworden, und plötzlich werden alle Anhänger der Republik rücksichtslos verfolgt, auch eben die Männer jenes Dorfes, die eines Tages sämtlich von Soldaten abtransportiert werden und auf unbestimmte Zeit verschwinden. Zurück bleiben die Frauen und die Kinder, und in der Angst und Ungewissheit, ob die Männer überhaupt jemals zu ihnen zurückkehren werden, beginnen die Frauen, ihren Alltag, ihre Arbeit, ihr Überleben neu zu organisieren. Bei alledem ist ihnen klar: Wenn nicht irgendwann von irgendwo ein Mann auftaucht, wird es in absehbarer Zeit kein Dorf mehr geben, weil es keinen Nachwuchs gibt. Die jungen Frauen sind sich einig: Sobald ein potentieller Sämann greifbar ist, soll er ihnen allen gehören und möglichst viel Nachwuchs zeugen. Abgesehen von diesen rein praktischen Erwägungen wächst natürlich auch die Sehnsucht unter den Damen, auch bei Violette, dem Mädchen, das lesen kann, der Einzigen im Dorf, um genau zu sein, das hat sie vom Vater gelernt und das versucht sie nun an die Kleinen weiterzugeben. Sie wird zur Hauptperson, als eines Tages tatsächlich ein Mann ins Dorf kommt, der sich Jean nennt und angeblich als Hufschmied unterwegs ist. Sie bewirtet ihn, kümmert sich ein bisschen, und schnell kommen sich die beiden näher, und die anderen Frauen erkennen, dass es ihre Aufgabe sein wird, ihn wenigstens für einige Zeit im Dorf zu halten, was nicht so schwierig sein wird, da Violette auch noch die Schönste von allen ist. Probleme bekommt sie erst, als die anderen sie an ihren gemeinsamen Pakt erinnern, denn sie hat sich in Jean verliebt und möchte ihn eigentlich nicht teilen. Als sie ihm erklärt, was hier von ihm erwartet wird, reagiert er zunächst empört, stimmt dann später aber doch zu. Es geht ein bisschen spannungsvoller im Dorf zu, doch bald sind einige der jungen Frauen schwanger, unter anderem auch Violette, der Jean vorschlägt, mit ihm weiterzuziehen, denn mittlerweile hat sie herausgefunden, dass er auf der Flucht ist und sowieso nicht ewig bleiben kann. Die ganze Situation ändert sich nochmals, als nach fast zwei Jahren plötzlich einige der Männer zurückkommen. Sie erzählen von Gefangenschaft in Algerien oder auf weit entfernten Inseln, von Folter und Tod, doch es werden einige doch freigelassen, und damit ist für Jean kein Platz mehr im Dorf. Das weiß er und verschwindet sofort, und er weiß auch, wohin Violette gehört, und so geht er ohne sie, nicht ohne ihr einen Brief zu hinterlassen, in dem er seine Liebe und Verbundenheit zum Ausdruck bringt.
Auf der einen Seite sind dies einhundert Minuten reine Poesie, ein Rausch in Farben, Landschaften, Lichtstimmungen, ein Film zum Genießen auf großer Leinwand, die durch das 4:3 keineswegs beschnitten, sondern im Gegenteil irgendwie stärker wirkt. Was zu einer schnöden Männerfantasie hätte werden können, ist im Gegenteil eine Frauenfantasie mit konkreten historischen Bezügen, wenn man so will auch feministischen Untertönen und auf jeden Fall einer starken erotischen Note, denn natürlich geht es den Frauen um Lust, um Begehren, um Sexualität. Die einen kennen sie schon und erinnern sich gern, andere, wie Violette, haben noch keine Erfahrungen, möchten aber selbst welche machen. Nach der Arbeit oder in den Pausen auf dem Feld oder am Brunnen oder am Waschtrog hockt man sich zusammen, in Abwesenheit der Männer mit einem gewissen Genuss sogar, und spricht ganz offen über Dinge, die früher tabu waren, signalisieren ein ganz anderes Selbst- und Körperbewusstsein. Die bedingungslose Solidarität im Hinblick auf ihre Situation und die absolute Notwendigkeit, zusammenzuhalten, steht ebenso außer Frage wie die Rivalität, die entsteht, als der Mann ins Dorf kommt. Eine Rivalität, die die Solidarität allerdings nie in Frage stellt – die Stärke und das Durchhaltevermögen und die Entschlossenheit der Frauen aus dem Dorf werden nachhaltig betont. Dabei ist dies absolut kein Film der großen Worte, nicht mal vieler Worte. Im Mittelpunkt stehen Gesichter, steht die Physis der Gestalten in karger, heißer Landschaft, steht natürlich die Landschaft selbst mitsamt all der unterschiedlichen Stimmungen. Ein wundervoll sinnlicher, impressionistischer, intensiver Film, den ich Minute für Minute genossen habe, und ich wünsche mir für das neue Kinojahr, dass es auch weiterhin solch großartige Produktionen abseits des Mainstreams geben wird. (14.1.)