Der Fall Collini von Marco Kreuzpaintner. BRD, 2019. Elyas M’Barek, Franco Nero, Alexandra Maria Lara, Heiner Lauterbach, Rainer Bock, Catrin Striebeck, Pia Stutzenstein, Manfred Zapatka, Jannis Niewöhner, Stefano Cassetti, Sandro Di Stefano, Peter Prager
Ein Mann aus Italien mit Namen Fabrizio Collini erschießt einen angesehenen deutschen industriellen in einem Hotelzimmer und zertrümmert ihm anschließend auch noch den Schädel mit Fußtritten. Das Motiv ist völlig unklar, und sein Pflichtverteidiger kriegt zunächst kein Wort aus ihm heraus. Der junge Anwalt Caspar Leinen ist zudem reichlich befangen, weil der Tote für ihn, den Sohn einer türkischen Immigrantin und eines weitgehend fremden deutschen Vaters, immer eine Art großväterlicher Freund und Förderer war. Die Staatsanwaltschaft und der prominente Nebenkläger, der für die Familie des Opfers auftritt, scheinen leichtes Spiel zu haben, und bald flattert dem jungen Verteidiger ein Angebot auf den Tisch, das er eigentlich nicht ablehnen kann und das Collinis Schuldeingeständnis voraussetzt. Dann aber stolpert Leinen über die Tatwaffe, eine alte Pistole, wie sie vor allem von der deutschen Wehrmacht benutzt worden war. Er beginnt nun doch zu recherchieren und sich richtig in den Fall zu verbeißen, und was ans Licht kommt und zu einem echten Drama heranwächst, hat ursächlich mit einem deutschen Justizskandal zu tun, von dem wir heute bezeichnenderweise eigentlich gar nichts mehr wissen (Juristen und Historiker womöglich ausgenommen).
Man kann es gar nicht oft genug betonen – was die Nazis während ihrer Herrschaft angerichtet haben, ist natürlich konkurrenzlos und muss, was die deutsche Geschichte angeht, immer an erster Stelle bei den Schreckensfakten genannt werden. Was aber danach in der BRD in Sachen „Vergangenheitsbewältigung“ von statten ging, kommt nicht allzu weit danach, denn auf die einst verübten Gräuel und Untaten häufte man nun weiteres Unrecht, indem man verschwieg, vertuschte, verharmloste, vergaß. Die Zeit des Schweigens brach an, des Verdrängens, des sogenannten Wiederaufbaus, in dem einfach niemand Zeit und Lust hatte, die schwere Last immer wieder zutage zu fördern und womöglich auch noch peinlich genau nach den Verantwortlichen, den großen und auch den kleinen, zu suchen und diese zu richten. Ein Mann namens Dreher, einst Parteimitglied und ranghoher Justizmensch unter anderem in Innsbruck, brachte zu diesem Zweck in den 60ern eine Gesetzänderung auf den Weg, die offenbar so geschickt gestaltet war, dass kaum jemand mitkriegte, was sie eigentlich in der Konsequenz bedeutete, und als sie 1968 endlich verabschiedet wurde, war es dann zu spät. Der sogenannte „Verjährungsskandal“ war da, aber kaum jemand schien sich ernstlich aufregen zu wollen, denn die Justiz hatte weniger Arbeit, und viele brave, fleißige Ex-Nazis kamen ungeschoren davon – man spricht in solchen Fällen gern von einer Win-Win-Situation. Aus Mördern wurden flugs Totschläger ohne niedere Beweggründe, Totschlag verjährte nach fünfzehn Jahren, mithin war die zeitliche Grenze 1960, und alle später Angeklagten konnten nicht mehr vollumfänglich für ihre Taten belangt werden. Ein Skandal in der Tat, der eigentlich schon alles über die BRD und ihren Umgang mit der NS-Vergangenheit aussagt und der mich noch immer sprachlos vor Staunen und Wut zurücklässt.
Marco Kreuzpaintner hat daraus einen Film gemacht, der zwar deutlich mit konventionellen und dramatisierenden Elementen arbeitet, zum Teil durchaus ein wenig zuviel für meinen Geschmack, der aber sein Thema unterm Strich zu einem sehr kraftvollen und aufwühlenden Justizdrama verarbeitet. Die eine oder andere Konstruktion erscheint mir etwas zu gewollt – ausgerechnet Leinen ist praktisch eine Art Ziehkind Meyers, weshalb er dann auch noch mit dessen Enkelin amourös anbandeln muss -, manche Storyline ein wenig zu glatt und gefällig – Papi ist praktischerweise Buchhändler und liest schnell, und eine fesche Italienischübersetzerin reißt der smarte Leinen mal kurz beim Pizzabringdienst auf - und gegen Ende wird mir dann mit der schwelgenden Kinomusik doch zu dick aufgetragen, aber andererseits habe ich zwei Stunden lang ziemlich absorbiert und bewegt zugesehen, also muss Kreuzpaintner auch vieles richtig gemacht haben. Und das hat er auch – er hat den Film sehr dicht und spannend inszeniert, hat eine ausgezeichnete Schauspielertruppe versammelt, die einen mehr als ordentlichen Job macht, und er hat neben der emotionalen auch die historische und juristische Komponente der Geschichte herausgearbeitet, immer unter der Maßgabe, dass dies in erster Linie ein Unterhaltungsfilm ist und keine Geschichtsvorlesung. Das finde ich in dem Moment okay, da ich das Gefühl habe, dass die Substanz nicht ganz zu kurz kommt, und so ist es mir hier eigentlich durchweg ergangen. Natürlich hätte man die eine oder andere kommerzielle Konzession auslassen und stattdessen noch das eine oder andere geschichtliche Thema eingehender beleuchten können, keine Frage. Aber alles in allem findet der Film einen ziemlich brauchbaren und überzeugenden Mittelweg, er bewegt und beschäftigt und regt tatsächlich dazu an, sich nochmal darüber zu informieren, was das eigentlich genau war, dieser Verjährungsskandal. Nebenbei bemerkt ist dieser Film wie viele andere in den letzten Jahren selbst Teil eines solchen Verjährungsskandals (siehe zum Beispiel die vielen Fritz-Bauer-Filme), wenn auch eher im übertragenen Sinne: Wieso zum Teufel kommen Kino und Literatur erst mit vierzig-, fünfzig- oder gar sechzigjähriger Verspätung auf die Idee, sich mit all diesen Themen zu beschäftigen…??? (1.5.)