Deutschstunde von Christian Schwochow. BRD, 2019. Levi Eisenblätter, Ulrich Noethen, Tobias Moretti, Tom Gronau, Johanna Wokalek, Sonja Richter, Marias Dragus, Louis Hofmann

   Das randvolle große Kino zeigt nachdrücklich: Siegfried Lenz‘ Roman ist 50 Jahre nach Erscheinen nach wie vor gefragt, und eine Neuverfilmung offensichtlich auch, nachdem der Uraltzweiteiler von Peter Beauvais hierzulande irgendwie in Vergessenheit geraten ist, jedenfalls nicht mehr gezeigt wird. Das Thema beschäftigt uns gottseidank immer noch, keine Frage, doch der Altersdurchschnitt der zahlreichen Kinobesucher deutet an, dass diese Beschäftigung offenkundig nicht generationsübergreifend stattfindet. Oder vielleicht auch, dass es heutzutage einer anderen Zugangsweise bedarf, um auch die nachfolgenden Generationen anzusprechen.

   Darum hat sich Christian Schwochow aber nicht gekümmert, der hat eine klassische, lupenreine Literaturverfilmung fabriziert – bildstark, aussagestark, schwer und ernst. Sehr dicht am Roman bleibend, vielleicht mit einigen Abschwächungen, die sich ein Film dem Buch gegenüber erlauben kann und die wohl als zeitgemäß durchgehen. Das hier ist dennoch keine modernisierte Interpretation, das hier ist bis ins kleinste Detail sorgsam und künstlerisch wertvoll inszeniert, und wenn man nachher aus dem Kino kommt, muss man erstmal tief durchatmen, weil die zwei Stunden doch aufs Gemüt drücken, und so soll es ja auch sein.

   Mit der Werktreue ist das ja immer so eine Sache – mal tut sie einem Film gut, mal nicht. In diesem Fall würde ich sagen, hat sie sich durchaus positiv ausgewirkt, zumal Schwochow es geschafft hat, die Essenz des Romans, und das ist nicht wenig, in genuines Kino zu verwandeln, ohne steif, literarisch oder akademisch rüberzukommen. Natürlich hat das Buch ein Anliegen, möglicherweise auch einen gewissen belehrenden Charakter, und das war Ende der 60er mehr als nötig, denn viel zu sehr schon hatten sich die Kunst und die Gesellschaft im Ganzen arrangiert mit einem Vorgang, der die deutsche Geschichte bis heute prägt. Lenz war nun keiner, der dagegen lautstark auf die Barrikaden ging, sein Roman ist ruhig, künstlerisch fast unauffällig, doch auf die Substanz kommt es an, und die hat es wirklich in sich. Eine gute Verfilmung versteht es, diese Substanz bei allen unvermeidlichen Weglassungen zu konservieren und herauszufiltern, und da haben Schwochow und Mama Heide als Drehbuchverfasserin ganze Arbeit geleistet und ein herbes, tiefgehendes Drama um Pflicht und Gewissen und Gewalt geschaffen. Ein Junge zerrissen zwischen Zuneigung und elterlichem Gehorsam, dazu ein bis zum Fanatismus pflichtbewusster Polizeibeamter im Nationalsozialismus und ein expressionistischer Maler, der einfach nur seine Kunst ausüben möchte, die jeweils ein Ende des Seils in der Hand halten und dem Jungen eine übermenschliche Belastungsprobe abfordern. Dieses fatale Dreieck wird mit größtmöglicher Plastizität und Ausdruckskraft auf die Leinwand gebracht, und obwohl ich im norddeutschen Setting sicherlich lieber jemand anderen als den guten Tobias Moretti gesehen hätte, machen die drei Hauptdarsteller ihre Sache mehr als gut, auch der Junge, der eine überaus schwierige Rolle hat, und Noethen als unbekehrbarer und zum Teil unfassbar grausame Nazivater darf sich natürlich voll entfalten und tut dies mit seiner ganzen Klasse. In Siggi kämpfen Furcht und Hass gegen den Vater mit dem anerzogenen Gehorsam, und er lässt sich, weil er sich nicht wehren und den Mechanismus auch noch nicht verstehen kann von den beiden Antagonisten in einen Zwiespalt manövrieren, der ihn psychisch stark angreift, bis er letztlich in der Anstalt für Schwererziehbare landet, wo er dann ungefähr zehn Jahre später als knapp Volljähriger in dem Aufsatz mit dem schönen deutschen Titel „Die Freuden der Pflicht“ seine Geschichte erzählen kann. Der Vater zwingt ihn ganz bewusst zur Kollaboration, möchte ihn zum Spitzel gegen Nansen missbrauchen, der Maler wiederum bringt ihn, wenn auch vielleicht unbeabsichtigt, ebenfalls in Bedrängnis, indem er den Jungen zum Komplizen gegen den Vater macht und heimlich weiter malt, obwohl Polizist Jepsen wie ein Schießhund darauf achtet, dass das Malverbot „aus der Hauptstadt“ auch ja eingehalten wird. Was für Siggi anfangs vielleicht noch ein spannendes Spiel ist, gerät zunehmend zu einer ausweglosen Bredouille, der ein Zehnjähriger unmöglich standhalten kann. Nach dem Krieg dann werden die Spätfolgen erst richtig deutlich, wenn der Heranwachsende versucht, Nansens Bilder weiterhin in Sicherheit zu bringen, obwohl offiziell keine Gefahr mehr besteht, doch hat sich die Psychose verselbständigt, und als Sigi unbeabsichtigt seinen Vater auch noch zu einem Versteck führt und der die Bilder mitsamt dem alten Kotten einfach abfackelt, verliert Siggi endgültig den Halt, und auch Nansen kann ihm nicht mehr helfen.

   Dieses Dreieck wird ergänzt durch einige Figuren am Rande, und da schwächelt der Film dann doch, denn die sind zum teil arg schemenhaft geraten bzw. fallen mit ihrer Geschichte einfach aus dem Film raus. Siggis Mutter Gudrun, im Roman eine tief überzeugte Nationalsozialistin, hat zum Beispiel kaum Kontur, obwohl mit Sonja Richter eine so exzellente Schauspielerin zur Verfügung stand, und auch Johanna Wokalek und Louis Hofmann sind ziemlich unterfordert, vor allem Hofmanns Klaas, Siggis älterer Bruder, der kurz vor Kriegsende durch Selbstverletzung desertiert, taucht im Film unter und ward nicht mehr gesehen, was ich als ein ziemlich unverständliches Versäumnis empfunden habe. So gesehen fehlt dem Personal im Film ein bisschen die Abrundung, die Ausgewogenheit, und das würde ich schon als ein deutliches Manko betrachten, zumal dem zwischenzeitlich fast dämonisch bösen Vater Jepsen ein wenig das Gegengewicht fehlt, denn auch Nansen hat längst nicht die fies schillernde Präsenz des unbarmherzigen Gesetzeshüters. Jepsen hat nur einen einzigen Moment, in dem wir erahnen können, dass auch er womöglich unter der Bürde der ihm auferlegten Pflicht leidet, als es nämlich um Klaas geht, den Nansen bei sich versteckt. Ein kurzer Moment des inneren Konflikts, ein Schluchzen auf der Kellertreppe, und dann ist er wieder klar und geht energisch zu werke, liefert den Schwerverletzten den Nazis aus. Denselben Nazis übrigens, die nach dem Krieg auch wieder in Amt und Würden stecken, so wie auch Jepsen selbst, der seine Uniform gleich anlässt und nur ein paar Naziembleme abschneidet, als sei gar nichts geschehen, als hätte sich niemand etwas zuschulden kommen lassen. Ein weiteres großes Thema des Romans, für mich fast gleichrangig neben den anderen. Schon der Aufsatztitel, den Siggi Mitte der 50er bearbeiten muss, gibt uns zu verstehen, dass dieser alte Geist noch immer im Lande herrscht, dass wir Deutschen über unsere gottverdammte Pflicht wohl niemals hinwegkommen werden. Pflicht und Treue und Gehorsam, jawohl, die Pfeiler, auf denen Hitlers Regime aufgebaut wurde, und gleichsam die Pfeiler, auf denen Nachkriegsdeutschland errichtet wurde, und darum hatten die vielen vielen Alt-Nazis auch gar kein Problem, sich bruchlos zu integrieren und einfach weiterzumachen wie bisher, so wie Jens Ole Jepsen und all die anderen. Nach hinten raus gerät der Film dann ein bisschen knapp und hat etliches aus dem Roman unter den Tisch fallen lassen, obwohl ich gebe zu, dass ich nach gut zwei Stunden dann auch das Gefühl hatte, es sei jetzt genug und er könne gern zum Schluss kommen. Man kann halt einen Roman nicht eins zu eins auf die Leinwand übertragen.

 

   Insgesamt ist dies aber ein Film, in dem die Stärken deutlich überwiegen, obwohl die Schwächen klar auf der Hand liegen und auch ins Gewicht fallen. Die Schwochows haben sich für bestimmte Prioritäten entschieden, und das ist zu respektieren, und innerhalb dieses Konzepts sind Buch und Regie tatsächlich sehr überzeugend und stark. Die Bilder im Übrigen auch, denn das hier ist was für die ganz große, breite Leinwand, auf der die grandiosen, epischen Panoramaaufnahmen aus dem Watt erst richtig zur Geltung kommen. Das schwere flache Land, der unheimlich hohe Himmel, die Wolken, das Licht, das Meer und darin eine Geschichte, die mit grimmiger Entschlossenheit und Unausweichlichkeit abläuft, das ist schon großes klassisches Erzählkino, und das muss man sich erstmal trauen, wo sonst doch eher Produkte im TV-Format und mit geringerem künstlerischen Anspruch an der Tagesordnung sind. (16.10.)