L’apparition (Die Erscheinung) von Xavier Giannoli. Frankreich/Belgien/Jordanien, 2018. Vincent Lindon, Gallatéa Bellugi, Patrick d’Assumçao, Anatole Taubman, Elina Löwensohn, Claude Lévèque, Alicia Hava, Gérard Dessalles, Bruno Georis
Die Erscheinung der Heiligen Jungfrau Maria fand diesmal statt in einem kleinen entlegenen Dorf in der Haute-Provence, und erschienen ist sie der jungen Anna, die sich daraufhin für ein Leben im Kloster entscheidet und fortan von allen wie eine Heilige verehrt wird. Eine rege Pilgertätigkeit setzt ein, das Dorf wird zu einer Berühmtheit und einem Ziel gläubiger, hoffnungssuchender Christen in aller Welt. Das ruft den Vatikan auf den Plan, speziell die Abteilung Glaubenspolizei, und die beruft eine Kommission zur Prüfung des Phänomens und schickt sie in die französischen Alpen. Die Kommission besteht weitgehend aus Kirchenmännern plus einer Psychologin plus einem international renommierten Reporter namens Jacques Mayano. Der ist just von einem Einsatz in Syrien zurück, wo er seinen engen Freund und langjährigen Fotografen verloren hat. Er wird nach Rom gebeten und dort instruiert, von ihm verspricht man sich einen anderen, kritischen Blick auf die Geschichte, denn der Vatikan kann die Erscheinung erst dann offiziell anerkennen, wenn sie gründlich auf ihre Glaubwürdigkeit abgeklopft worden ist. Jacques lässt sich überreden, reist in den Südosten des Landes und gerät in eine merkwürdige Parallelwelt, die ihn zum einen abstößt, Zum anderen fasziniert. Er lernt vor allem Anna kennen, die mittlerweile volljährig ist, ein ätherisches Mädchen von großer Ausstrahlung, der auch Jacques sich nicht entziehen kann. Dennoch recherchiert er, stößt auf eine Geschichte aus Annas Vergangenheit, die ihn irritiert und zweifeln lässt und die offensichtlich sogar mit seiner eigenen Vergangenheit im Nahen Osten verbunden sein könnte. Ein Mädchen namens Mériem taucht immer wieder auf, und Jacques ahnt, dass er sie finden muss, um den Dingen auf den Grund zu kommen. Der Konflikt zwischen den Glaubenden und der Kommission spitzt sich zu, ein Medienteam heizt die Stimmung weiter an, Anna wendet sich verzweifelt an Jacques und bittet ihn um Unterstützung, doch dann stirbt sie, erschöpft und verausgabt, und der ganze Spuk hat erstmal ein Ende. Jacques schreibt seinen Bericht für den Vatikan, reist danach dennoch nach Syrien und macht sich auf der Suche nach Meriem, findet sie und hört von ihr die ganze Geschichte.
Ein ebenso langer wie komplexer und ziemlich spannender Film über den Glauben und die moderne Zeit, über das Geschäft mit dem Glauben, über die Faszination des Mysteriums, und über Lebensentwürfe zwischen totaler Religiosität und Weltlichkeit. Wenn Jacques am Ende dem Monsignore im Vatikan Bericht erstattet, wird er zugeben, dass r trotz der Lügen und der Kommerzialisierung Menschen kennengelernt hat, die etwas in ihm verändert haben, die ihn davon überzeugt haben, dass es eine Welt jenseits rational erfassbarer Fakten und Strukturen gibt. Wie diese Erkenntnis zu ihm gekommen ist, erschließt sich eher indirekt, und es gehört zu den Stärken in Giannolis Inszenierung, dass er uns vielfach die Arbeit überlässt, dass er uns keine vorbereiteten, leicht verdaulichen Häppchen serviert, sondern uns gemeinsam mit diesem eigentlich durch und durch weltlich geprägten Reporter in ein Umfeld reisen lässt, dass sich zunächst mal seinen gewohnten Kategorien entzieht und ihn (und damit auch uns) wenigstens vorübergehend dazu zwingt, andere Sichtweisen, eine andere Herangehensweise zu akzeptieren, wenn er überhaupt einen Zugang finden will. Was er vorfindet, ist halbwegs ein grotesker und abstoßender Kommerzzirkus aus Devotionalienhandel und schamloser medialer Ausbeutung (der wohl nicht von ungefähr an Jessica Hausners sanft giftigen „Lourdes“ erinnert), und andererseits begegnet ihm das Phänomen der totalen Hingabe, des innigen Glaubens, vor allem natürlich in der Gestalt Annas, die ihn sichtlich beeindruckt und der er sich durchaus auch mit erotischen Absichten nähert, so jedenfalls hat es den Anschein. Anna in ihrer undurchdringlichen Rätselhaftigkeit ist die schillerndste Figur hier, von Gallatéa Bellugi kongenial ambivalent verkörpert, zwischen Erleuchtung, Verzweiflung, Erschöpfung und scheinbar reinstem Glauben. Jacques möchte ihr nahe sein, ihren Zustand begreifen, und zugleich sagt der an Fakten orientierte Journalist in ihm, dass ihre Geschichte zweifelhaft ist, was sich letztlich ja auch bestätigt. Dennoch hat ihre Art von Frömmigkeit eine ganz andere Qualität als die vieler anderer, eine ganz reine, elementare. So jedenfalls möchte Jacques es sehen, möchten vielleicht auch wir es sehen. Sein intensives Stöbern in ihrer Biographie fördert jede Menge verwirrender Details zutage, die wir zunächst nicht zusammenfügen können und die sich erst in Syren ganz am Ende klären. Der Film fordert grundsätzlich unsere höchste Aufmerksamkeit, weil er sich nicht um vollständige Klarheit bemüht, weil er vieles offen, unerklärt lässt. Daher rührt natürlich auch seine Spannung. Auf einer Ebene möchte Jacques unbedingt die Wahrheit über die Erscheinung wissen und darüber, wer sie wirklich hatte und ob es sie überhaupt gab. Auf einer anderen Ebene jedoch beginnt er zu verstehen, dass diese Fragen völlig irrelevant sein könnten, auf jeden Fall für die Bewohner des Dorfes und die vielen Pilger, die gerne an das Wunder glauben möchten.
Das Spannungsfeld zwischen archaischer Gläubigkeit, Hingabe, Demut einerseits und moderner Skepsis, Geschäftemacherei und Habgier andererseits wird nicht als präzis umrissenes Terrain gezeigt, sondern als diffuse Grauzone, in der sich auch Jacques zwischendurch zu verlieren scheint und die ihn schließlich auch verändert, obwohl er der Überzeugung ist, aus einer ganz anderen Welt zu kommen. Giannoli nimmt sich Zeit genug, um die Szenen atmen und nachwirken zu lassen. Es ist nicht immer ganz leicht, zu folgen, aber sein Film ist auf jeden Fall einer der interessantesten und anregendsten französischen Filme der letzten Zeit, und ich wäre wirklich froh, wenn sich die Herrschaften drüben im Westen häufiger auf ihre Qualitäten besinnen und Filme abseits des Wohlfühlmainstreams machen könnten. Wie man hier sieht. Es geht. (27.5.)