Grâce à Dieu (Gelobt sei Gott) von François Ozon. Frankreich, 2019. Melville Poupaud, Denis Ménochet, Swann Arlaud, Éric Caravaca, François Marthouret, Bernard Verley, Josiane Balasko, Aurélia Petit, Julie Duclos, Amélie Daure, Jeanne Rosa, Martine Erhel
Die erste Szene ist enorm: Ein Bischof oder Kardinal oder wasweißich in voller Tracht stellt sich auf den Balkon seiner Kirche, und die liegt hoch über der Stadt wie ein Schloss, hebt seine Monstranz oder wie auch immer das goldene Ding heißt, und wendet sich der Stadt zu, hält das Ding hoch, so als wolle er sie in ihrer Gesamtheit segnen. Ein archaisches, wirkungsmächtiges, auch einschüchterndes Bild von Macht, die sich nicht in Frage stellen muss.
Ähnlich eindrucksvoll gerät allgemein der erste Teil von François Ozons neuem Film: Alexandre, Vater von fünf Kindern, gut situierter Bankangestellter und praktizierender Katholik stößt zufällig auf den Namen Preynat, den Namens jenes Priesters, der ihn damals übe einen längeren Zeitraum, unter anderem in einem Feriencamp, sexuell missbrauchte und der nun offensichtlich noch immer im Amt und vor allem noch immer im direkten Kontakt zu Kindern tätig ist. Und plötzlich nach beinahe dreißig Jahren kommt alles wieder hoch, und Alexandre fängt an, darüber zu reden, den Kindern davon zu erzählen, und er wendet sich schriftlich an das Erzbistum von Lyon in der Hoffnung auf eine späte Aufarbeitung seines Traumas. Eine Psychologin, die für die Kirche arbeitet, betreut Alexandre und stellt den Kontakt zum Kardinal Barbarin her, doch dessen Reaktion und das nach langem Hin und Her zustande gekommene Treffen mit Preynat wirken sehr ernüchternd: Preynat gibt seine Taten zerknirscht zu, doch kommt kein einziges Wort der Entschuldigung über seine Lippen. Und Barbarin hört verständnisvoll zu, gibt Alexandre letztlich aber zu verstehen, dass er nicht gewillt ist, diese Sache mit allen Konsequenzen zu verfolgen, dass er nicht mal gewillt ist, Preynat aus dem Dienst zu entfernen. Alexandre, brüskiert von soviel Arroganz, wird nun öffentlich, und nach kurzer Zeit finden sich einige Männer, die ebenfalls von Preynat missbraucht worden sind, und des gründet sich eine Art Verein mit dem Ziel, die Taten des Priesters und auch das Wegschauen der Kirche insgesamt an den Pranger zu stellen und zumindest Preynats Entfernung aus dem Amt zu erwirken und als Missbrauchsopfer endlich gehört zu werden. Dabei werden sie nicht nur von der Kirche abgeblockt, sondern häufig auch von der eigenen Familie, vor allem die Eltern tun sich mehrfach schwer, sich dem Thema zu stellen, denn es bedeutet für sie auch ,sich ihrer eigenen Versäumnisse zu stellen, denn fast alle Männer berichten übereinstimmend, dass ihnen damals kein oder kaum Gehör geschenkt worden war. Selbst heute heißt es immer noch „Nach so vielen Jahren, was soll das jetzt noch bringen…“ ohne ähnliches. Man schämt sich, unter anderem für sich selbst oder man will die heilige Kirche nicht antasten oder man hat ganz einfach genug davon, ewig das gleiche Thema durchzukauen.
Spätestens hier breitet sich die Erzählperspektive deutlich aus, wandert von Alexandre zu zwei anderen Protagonisten, François und Emmanuel, die gleiches durchmachten, dies aber jeweils auf unterschiedliche Weise verarbeiteten. Der eine ist offensiv und selbstbewusst, wie Alexandre erfolgreicher Familienvater, der andere ist bislang in so ziemlich allem gescheitert, sowohl beruflich als auch privat. Indem er den Fokus auf diese Weise aufzieht, kann Ozon einerseits zwar viel mehr verschiedene Aspekte des Themas ansprechen und darstellen, es geht ihm aber andererseits einiges an Intensität und Konzentriertheit verloren. Ich habe im Mittelteil des Films einen deutlichen Durchhänger erlebt, jedenfalls was meine persönliche Aufmerksamkeit und Anteilnahme betrifft, weil Ozon in seiner gewohnt etwas kühlen Erzählhaltung ein wenig den Zugriff verliert. Er hat noch immer sehr Wichtiges zu sagen und sagt das auch klar und deutlich, und es besteht natürlich gar kein Zweifel, dass sein Film gut und sehr wichtig ist, doch über die gesamten einhundertvierzig Minuten fand ich ihn nicht ganz so gelungen, wie ich erhofft und erwartet hatte. Die Opfer in all ihren Befindlichkeiten und Zusammenhängen kommen hier ausführlich zu Wort, und das ist zunächst das entscheidende, die Geste, auf die es ankommt. Nachdem sie jahrzehntelang mit ihrer Not, ihrer Erniedrigung, ihren Verletzungen ignoriert, totgeschwiegen, beschwichtigt, verharmlost, alleingelassen wurden, ist es nun zuallererst vordringlich, ihnen eine Stimme, in Forum, eine öffentliche Akzeptanz zu geben, und genau darauf zielt Ozons Film ab. Dass die Kirche nach wie vor imstande ist, praktisch eine eigene Gerichtsbarkeit aufrecht zu erhalten und die eigenen Reihen dicht zu halten wie einst im Mittelalter, und dass pädophile Schweine und diejenigen, die immer schon von ihren Vergehen wussten und dennoch schwiegen und wegsahen, womöglich ungeschoren oder bestenfalls mit lachhaften Strafen davonkommen, ist skandalös und empörend und beschämend, aber es ist nicht das Wichtigste hier. Alexandre und die anderen haben den Mut und die Kraft gefunden, über das Erlebte zu sprechen, sie haben Mitstreitende und Mitleidende gefunden, sie sind aus ihrer Anonymität aufgetaucht, und darauf kommt es an. Die Opfer sind solange immer weiter Opfer, wie sie keine Stimme haben, und darauf hat ja auch die Kirche letztlich gesetzt, und ihre Situation wird erst dann prekär, als die Opfer an die Oberfläche kommen und ihre Stimme erheben. Bis dahin setzt der Kardinal auf die tief verwurzelte Autorität, die er und seine Institution in Ländern wie Frankreich noch immer hat und die es eben auch zulässt, dass ein pädophiler Priester wie Preynat jahrelang schalten und walten darf, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Ozon benennt die beiden schlimmsten Missstände: Sexuellen Missbrauch und Schweigen und Mitwisserschaft. Beide ergeben ein geschlossenes System, gegen das man nur unter Überwindung größter Hindernisse einschreiten kann, und Ozon benennt auch diese Hindernisse, beschäftigt sich ausführlich mit familiären Beziehungen, alten Konflikten, die immer wieder aufgerührt werden, mit der Belastung, die daraus resultiert, dass sich die Opfer erneut mit ihrem Trauma auseinandersetzen müssen. Er heroisiert diese Opfer keineswegs, zeigt sie als normale Leute mit Ecken und Kanten, aber es steht ja auch nirgendwo geschrieben, dass Opfer automatisch vorbildliche, makellose Menschen sein müssen. Umso wichtiger die immer wieder betonte Notwendigkeit, sich zusammenzutun, sich zu solidarisieren, sich zu organisieren, um der unvermindert großen Macht der Kirche ein öffentlich wirksames Gewicht entgegensetzen zu können. Dass es sehr unterschiedliche Ansichten darüber gibt, wie dieses Gegengewicht auszusehen hat, ist eine der Ursachen für bleibende Konflikte in dieser Geschichte.
Alles in allem ein äußerst detailreicher, gedankenvoller, komplexer Film, der viel zu sagen hat und dies auch unmissverständlich tut, der mich aber eben nicht durchgehend gleich intensiv gefesselt und bewegt hat. Zum Ende hin nimmt diese Intensität wieder zu, und natürlich würde ich auf keinen Fall von einem misslungenen Film sprechen. Er behandelt sein Thema mit Ernst, Respekt und besonderer Diskretion, und gerade ein Regisseur wie Ozon versteht sich perfekt darauf, falsche Töne zu vermeiden. Vielleicht hätte er seine Aufmerksamkeit besser auf ein Opfer konzentrieren sollen, doch dann wäre natürlich die thematische Bandbreite womöglich auf der Strecke geblieben. Nun, er hat sich so entschieden, das muss man akzeptieren, und vieles von dem, was hier zur Sprache kommt, rechtfertigt diese Entscheidung zweifellos. Wie schon gesagt ein wichtiger, relevanter, aktueller, aussagestarker Film, zu dem ich leider nicht durchgehend einen gleich engen Bezug hatte. (27.9.)