Lara von Jan-Ole Gerster. BRD, 2019. Corinna Harfouch, Tom Schilling, Rainer Bock, André Jung, Volkmar Kleinert, Gudrun Ritter, Mala Emde, Hildegard Schroedter

   Vor geschlagenen sieben Jahren (ist das wirklich schon so lange her…) ließ Jan-Ole Gerster in „Oh Boy“ Tom Schilling durch Berlin treiben, ein bisschen ziellos, ein bisschen richtungslos, aber trotzdem irgendwie liebenswürdig. Jene Mischung aus lockerem Jazz-Habitus und liebevoller Ironie in coolem Schwarzweiß war damals eine echte Attraktion, einfach mal ein ganz neuer Akzent im BRD-Kino, Nonchalance und hintergründiger Ernst, ein mal verspieltes, mal melancholisches Generationenporträt ohne Anspruch auf die übliche teutonische Tiefe. Mit anderen Worten: Extrem angenehm.

   Sieben Jahre später nun scheint dies nicht mehr möglich zu sein, und kann auch gut sein, dass Gerster gar nichts in der Art anstrebte, obwohl auch dieser neue Film einen einzigen Tag in Berlin abdeckt. „Lara“ sind einhundert unbehagliche, irgendwie bleierne Minuten, so frostig und erstarrt wie Corinna Harfouchs maskenähnliches Mienenspiel. Ihrer Kunst ist es allerdings zu verdanken, dass Nuancen und kleinste Regungen erkennbar werden, dass sich die Maske wenigstens hier und da hebt und nicht nur Frustration und Einsamkeit sichtbar sind, sondern auch Missgunst, Mutterliebe, Hochmut, Verzweiflung und Unterwürfigkeit, je nachdem, wem sie an diesem einen Tag, ihrem sechzigsten Geburtstag, begegnet.

   Die Diagnose scheint zunächst klar: Eine Frau, die die ersehnte Karriere als Konzertpianistin selbst nie realisieren konnte und deshalb all ihren Ehrgeiz und all ihre Verletzungen auf ihren armen Sohn projiziert, ihn mit allen Mitteln  (mit „sanftem Druck“, wie Viktor beschönigend in seiner Publikumsrede behauptet) zum Star macht und sich dabei von ihrer gesamten Familie entfremdet. Ihr Mann trennt sich, schnappt sich eine Neue und trachtet künftig hauptsächlich danach, Viktor vor dem Zugriff seiner dominanten Mutter zu beschützen. Ihre eigene Mutter haut mehr oder weniger in die gleiche Kerbe, auch sie tritt als Beschützerin des sensiblen Enkels gegen eine übergriffige, allgegenwärtige, fanatisch kontrollierende und reglementierende Mutter auf. Beide, Ex-Mann und Mutter, begegnen ihr derart distanziert, dass man sich leicht vorstellen kann, welchen Schrecken sie einst als Über-Mutter verbreitete.  Ihre ehemaligen Arbeitskolleginnen (Lara hat es bis zu ihrer Pensionierung lediglich zur Bürodame im Katasteramt gebracht) fürchteten oder hassten sie oder beides. Nur ihr Nachbar, der Herr Czerny, begegnet ihr zuvorkommend, freundlich und aufmerksam, und den behandelt sie besonders herablassend, weil er einfach nicht auf ihrem Niveau spielt, wie sie glaubt. An diesem Tag wird Viktor zum ersten Mal seine eigene Komposition öffentlich vorstellen, und Lara ist entschlossen, das Ihre zum Erfolg beizutragen. Sie hebt all ihr Geld vom Konto ab, kauft alle restlichen Karten auf und verteilt diese dann recht willkürlich und zuletzt an jeden, der ihren Weg kreuzt. Sie versucht, sich ihrer Familie wieder anzunähern, zumeist aber mit desaströsem Resultat: Sie haut ihrer Mutter ins Gesicht, giftet sich mit dem Ex an, und die kurze Begegnung mit ihrem Sohn reicht aus, um alte Strukturen wieder zu aktivieren – wieder ist er der hilflose, zartbesaitete Schöngeist, total auf sie und ihr Urteil fixiert, wieder ist sie die giftige Harpyie, die um ihre Macht weiß und sie gnadenlos auskostet. Diese Rollen verdrehen sich jäh, als Lara ihren alten Klavierlehrer trifft, den Herrn Professor Hastenichtgesehn, der nichts weiter ist als ein alter egozentrischer Mistkerl mit absolut null Empathie, den sie aber immer noch als eine Koryphäe verehrt. Er hatte ihr einst mit grobem Zynismus nahegelegt, ihren Traum von der großen Pianistin zu begraben, und sie hat sich daran gehalten, hat ihm geglaubt, dass sie zu wenig Talent hatte. Nun plötzlich eröffnet er ihr mit vollkommenem Gleichmut, dass er das damals gar nicht so gemeint sondern sie im Gegenteil zu ziemlich talentiert gehalten habe und sein Urteil lediglich deshalb so drastisch geäußert habe, um zu testen, wie viel Durchsetzungsvermögen und Kampfgeist sie in die Waagschale legen konnte. Diese Eröffnung trifft sie und uns ganz unvorbereitet, und sowohl sie als auch wir brauchen einige Zeit, um die volle Bedeutung, die tragische Tragweite dieses schrecklichen Missverständnisses zu erfassen, an dem nicht mehr oder weniger als ein verschwendetes, fehlgeleitetes Leben hängt und in Folge dessen mindestens eine kaputte Familie.

   Dies kommt sehr spät im Film, und für mich war das schon zu spät, denn in den letzten paar Minuten war ich nicht mehr imstande, meine mehr als distanzierte Haltung zu Lara zu revidieren. Ihre schmallippige, übellaunige Kälte ist natürlich nicht sonderlich anziehend, und die meisten ihrer Begegnungen an ihrem Geburtstag verlaufen eher unerfreulich, woran sie entscheidenden Anteil hat. Natürlich wird uns zuletzt klar, dass auch sie als Kind Opfer eines unsensiblen Armleuchters war und sich viele ihrer späteren Handlungen daraus ableiten lassen. Als Entschuldigung oder Absolutionsgrund mochte ich das dennoch nicht gelten lassen. Vielleicht hat das Drehbuch ihre beachtliche Misanthropie auch ganz einfach übertrieben, denn sie begegnet fast allen Menschen mit Ausnahme ihres Sohnes und des alten Professors ablehnend, abwertend, unzugänglich, schroff. Die beharrlichen Annäherungsversuche des Herrn Czerny werden ebenso brüsk zurückgewiesen wie die eher hilflosen Konversationsmanöver ihrer Ex-Kolleginnen oder der Versuch von Viktors Freundin, sie kennenzulernen und ihn dadurch vielleicht etwas besser zu verstehen. Jede dieser Konfrontationen scheint sie noch bitterer, noch einsamer zu machen, und dennoch ist dies ein Malstrom, dem sie aus eigener Kraft nicht entkommen kann. Dies alles aufgrund dieser einen Zurückweisung? So ganz überzeugt hat mich das letztlich nicht.

 

   Jan-Ole Gerster versteht es durchaus hervorragend, diese einzelnen Duette sehr wirkungsvoll und mit viel Gespür für unangenehme Atmosphäre in Szene zu setzen. Sein Film ist stark inszeniert, wunderbar in Bilder umgesetzt, und Harfouch nach vielen Jahren mal wieder in einer großen Rolle zu sehen, mag den Kinobesuch wert gewesen sein. Ganz sicher bin ich mir da aber nicht, denn Gerster gelingt es auf der andren Seite nicht mich emotional so zu berühren, dass ich für Lara etwas anderes als eine mehr oder minder ausgeprägte Ablehnung empfinden kann. Keine gute Basis für die Wendung spät in der Geschichte, ich jedenfalls mochte sie nicht auf einmal als das arme Opfer sehen und Verständnis für all ihre Bitterkeit aufbringen, vor allem für die Art und Weise, wie sie diese Bitterkeit an sich und ihren Mitmenschen ausagiert. Wenn es Gerster allerdings nur darauf angelegt hat, dass wir uns gründlich unwohl fühlen, dann ist ihm das aufs Beste geglückt. (27.11.)