Midsommar von Ari Aster. USA/Schweden, 2019. Florence Pugh, Jack Reynor, William Jackson Harper, Vilhelm Blomgren, Will Poulter, Ellora Torchia, Archie Madekwe, Henrik Norlén, Gunnel Fred, Isabelle Grill, Agnes Rase, Julia Ragnarsson, Mats Blomgren, Lars Väringer

   In fast jedem Horrorfilm macht irgendjemand irgendwann im Laufe der Story einen großen Fehler. Christian und seine Jungs von der Uni machen ihren großen Fehler, als sie der Einladung ihres Kommilitonen Pelle folgen, in den Semesterferien mit ihm zusammen in seine schwedische Heimat nach Hälsingland zu fahren und die kleine Landgemeinde kennenzulernen, in der er lebt, und wo nach wie vor ganz alte heidnische Gebräuche gepflegt werden. Damit hat der die Anthropologiestudenten voll am Haken, denn zwei von ihnen spekulieren darauf, aus dieser Reiser ihre Abschlussarbeit zu bauen. Christian nimmt noch seine Freundin Dani mit, die gerade einen schlimmen Verlust verarbeiten muss, denn ihre Schwester hat sich und ihre Eltern mit Autoabgasen vergiftet. Die Jungs sind nicht gerade übermäßig froh, dass plötzlich ein Mädchen mit ihnen fährt, aber das wird garantiert ihr geringstes Problem sein. Ich verrate nicht zuviel, wenn ich feststelle, dass aus den Bachelorarbeiten nichts wird. Und auch nicht aus dem Plan der Machoboys, möglichst viele kleine süße Schwedinnen flachzulegen. Auf jeden Fall will der nächste Schwedenurlaub sehr gut überlegt sein…

   Diesen Film anzuschauen war sicherlich kein großer Fehler, denn ungeachtet aller Vorbehalte habe ich zweieinhalb ziemlich bemerkenswerte Stunden im Kino verbracht – ganz allein im großen Saal übrigens. Die Vorbehalte hingen mit „Hereditary“ zusammen, dem Vorgängerfilm von Ari Aster, den ich lachhaft, hysterisch und ziemlich missglückt fand, und der die euphorischen Lobenshymnen der Kritik in keiner Weise rechtfertigen konnte. Davon ist in „Midsommar“ nichts zu sehen, obwohl Asters Vorliebe für heftige Eskalationen auch hier durchscheint, wenn auch zum Glück auf ganz andere Art und Weise. Er inszeniert diese Geschichte wie einen langsamen, unaufhaltsamen und deshalb so tief beunruhigende Malstrom, eine schwarze Ballade mit täuschend volkstümlichem Anstrich, getaucht ins gleißende Licht der nordischen Mittsommernächte. Eigentlich ist hier aber gar nichts hell, nicht der Himmel Tag und Nacht und nicht die aufdringlichen Kostümierungen der Einwohner Hårgas, wie sich die abgeschiedene Kommune nennt. Ein Ort mitten zwischen Bergen, Wäldern und Wiesen, komplett aus der Zeit gefallen, und anfangs erscheint er direkt wie ein paradiesisches Idyll aus anderer Zeit. Man lebt von und mit der Natur, kleidet sich in traditionelle Gewänder, pflegt die alten Bräuche, schreibt die eigene Bibel in Runenschrift weiter, schmückt die Häuser innen mit mythischen folkloristischen Bildern und Motiven, und alles hat den Anschein einer etwas skurrilen aber durchaus friedlichen kleinen Sekte fernab des modernen Betriebs. Das streng Rituelle ihres Zusammenlebens wird zunehmend maschinell, mechanisch wirken, die hell gewandeten Gemeindemitglieder mehr und mehr wie kalte Puppen, und Aster bezieht eine große Wirkung aus dem Kontrast zwischen diesem unverdrossen durchgezogenen Alltag und dem monströsen Geschehen parallel dazu. Egal, was geschieht, ständig erblickt man im Hintergrund tanzende und singende Blumenmädchen oder einträchtig gruppierte Weißbärte, die sämtlich den Eindruck vollkommener Harmonie machen, und bis zuletzt verliert die Gemeinde niemals ihre Fassung und ihren Zusammenhalt, denn alles, was hier geschieht, ist geplant und in ihrer Welt normal und richtig, während die Kids aus der sogenannten „zivilisierten“ Welt nur mit Fassungslosigkeit und Grauen reagieren können, so wie wir Zuschauer. Das Drehbuch ist sehr gekonnt und sorgsam strukturiert, etabliert zunächst die Studententruppe als einen ganz normalen wenn auch nicht sonderlich sympathischen Haufen, vor allem Christian, der mit seiner dünnhäutigen und etwas neurotischen Freundin gar nicht klarkommt und sich egoistisch und distanziert verhält, wofür er letztlich bitter bezahlen wird. Die ständige Anspannung sorgt dafür, dass schon die ersten Irritationen besonders intensiv wirken, auch auf uns, denn vieles wird gefiltert durch Danis übersensible Wahrnehmung. Mit dem ersten richtigen Horror aber ist der Spaß dann vorbei: Die Gemeinde demonstriert, wie sie das Altersproblem löst, denn nach vier mal achtzehn Jahren haben die Menschen in Hårga ihre vorgesehenen Lebensstationen durchlaufen, und Aster baut bei dem öffentlichen Suizid eiens alten Paares ein paar Schockbilder ein, die ich nicht gebraucht hätte, die mich aber schon darauf vorbereiten, dass hier vermutlich niemand ungeschoren davonkommen wird. Und richtig: Die Reisegruppe aus den Staaten wurde in eine Falle gelockt, wird als Menschenopfer benutzt, als Besamer (in einer weiteren drastischen Sequenz) und als Maikönigin. Je weiter die Geschichte voranschreitet, desto erschreckender wird sie, und dieser Effekt basiert zumeist auf Asters Geschick, eine Atmosphäre des Irrealen, der Desorientiertheit und Hysterie zu erzeugen, brillant unterstützt durch einen Soundtrack, der fast so gruselig ist wie die Bilder selbst und der absolut zum Wirkungsvollsten gehört, was ich bisher in diesem Genre zu Ohren bekommen habe. Mystik, Mythen, Folklore und hier und da jäh einbrechender und überaus physischer Horror werden auf sicherlich einzigartige Weise verbunden, und Aster hat es tatsächlich geschafft, seinen Stil und sein gemessenes Erzähltempo bis zuletzt durchzuhalten, ohne wie „Hereditary“ völlig die Fassung zu verlieren. „Midsommar“ ist ein einziger Alptraum, der um Schluss auch nicht aufgelöst wird, es gibt kein Erwachen und auch kein Entkommen. Die Maikönigin, nachdem sie ihren untreuen Freund dem Feuer zum Fraß vorgeworfen hat, löst sich auch ihrer Paralyse und zeigt angesichts der brennenden Kirche ein seliges Lächeln, so, als sei sie nun endlich von ihrem eigenen Trauma erlöst, befreit worden, und möglicherweise kann man annehmen, dass sie in die Gemeinschaft Hårgas aufgenommen werden wird, was man ja nicht unbedingt als Happy End bezeichnen würde.

 

   Da ich absolut kein Fan von Horrorpornos bin (diese im Gegenteil höchst widerwärtig und verabscheuungswürdig finde) und höchstens interessiert an originellen Varianten des Genres, hat mich „Midsommar“ auf seine hypnotische, extrem suggestive Art durchaus beeindruckt. Er hebt sich klar ab vom Mainstream, geht ganz eigene Wege und ist sicherlich einer der beunruhigendsten Filme, die ich seit langem gesehen habe, immer unter Berücksichtigung der Tatsache, dass dies hier Hollywoodkino mit dem entsprechenden Anspruch ist. (7.10.)