La paranza dei bambini (Paranza – Der Clan der Kinder) von Claudio Giovannesi. Italien, 2019. Francesco Di Napoli, Ar Tem, Alfredo Turrito, Viviana Aprea, Valentina Vannino, Pasquale Marotta, Luca Nacarlo, Carmine Pizzo, Ciro Pellecchia

   Nicola ist gerade mal fünfzehn, ein Junge aus dem Viertel Sanità in Napoli, da beschließt er, Mafioso zu werden, als er mitansehen muss, als seine Mutter, die eine kläglich laufende Wäscherei besitzt, von zwei miesen Schutzgeldeintreibern drangsaliert und gedemütigt wird. Die Wut, die Ohnmacht, die Hilflosigkeit treiben ihn geradewegs in die Kriminalität. Er schnappt sich seine Jungs, mit denen der Tag für Tag durchs Viertel streift, und sie versuchen, bei einem der großen Hechte anzuheuern. Und obwohl sie anfangs einiges auf die Nase kriegen, schafft es Nicola mit seiner Mischung aus Naivität, Dreistigkeit und Bauernschläue, sich ein ordentliches Stückchen vom Kuchen zu sichern und die gegnerischen Clanchefs gegeneinander auszuspielen. Sie organisieren sich einen großen Sack voller Waffen, und alsbald geht der unvermeidliche Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt los. Nicola verguckt sich in die fesche Letizia und träumt von einer romantischen Zukunft zu zweit, doch obwohl seine Gang aus Jugendlichen zwischenzeitlich die Kontrolle über das Viertel erlangt zu haben scheint und Nicola wie ein kleiner Zampano am Balkon steht und alle von unten zu ihm aufschauen und ihn grüßen, bleibt nichts sicher und die Machtverhältnisse sind instabil. Gerade als Nicola und Letizia sich mit knapper Not aus der Stadt davonmachen wollen, geschieht es, dass sein kleiner Bruder eine Kugel abkriegt, weil er mit seinen Bambini auch mal Mafia spielen wollte und die Knarren des großen Bruders ausgepackt hat. Da ist Nicola klar, dass er nicht einfach abhauen kann – er trommelt seine Jungs zusammen, und alle schwingen sich auf ihre Motorräder, um Vergeltung zu üben.

   Die Italiener müssen sowas nicht erfinden, mussten sie noch nie, denn sie haben es direkt vor ihrer Haustür, mitten in ihren Städten, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Ihre Filme über die Mafia und den ewigen Kreislauf aus Macht und Gewalt sind heute noch immer genau so aktuell wie vor fünfzig Jahren, und darin liegt die eigentliche Tragödie der Geschichte, die sich offensichtlich niemals ändern wird. Die scheinbar auch längst als gegeben hingenommen wird, als Tagesgeschehen, das halt dazugehört so wie das Wetter. Für alle in Nicolas Viertel gehört es zur Normalität, dass dort die Banden herrschen und sich gegenseitig bekriegen und ihre Territorien ausfechten, und es kommt in diesem Film keine einzige Stimme zu Wort, die das ganze System an sich anprangert oder gar zu bekämpfen versucht. Von staatlicher Autorität ist hier meilenweit nichts zu sehen, die Polizei ist schlichtweg nicht präsent, das Viertel ist vollkommen in den Händen der Clans, und niemand kann oder wird sich dagegen auflehnen. Es werden Schutzgelder bezahlt, auch wenn bittere Armut herrscht, es werden die Gesetze der Straße respektiert, auch wenn viele darunter leiden müssen, es werden die Regeln der Gewalt hingenommen, auch wenn es Jahr für Jahr so viel Opfer gibt. Nicola begehrt ja auch nicht dagegen auf, im Gegenteil, er steigt voll ein, er macht sich das System zunutze, taktiert zwischen den verschiedenen Clans und macht dabei stets sein eigenes Ding, vor allem weil die Alten die kleinen Milchbärte anfangs nicht so ganz ernst nehmen, um dann verblüfft festzustellen, dass die Bambini ihnen kurzerhand das Viertel weggeschnappt haben.

   Der Co-Autor dieses Films und zudem der Autor der Buchvorlage heißt Roberto Saviano, der stammt selbst aus Neapel, und das sieht und spürt man natürlich auch, und so zeichnet sich auch „Paranza“ durch seine eindrucksvolle Unmittelbarkeit und Authentizität aus, durch ein starkes Gefühl für Mensch und Milieu, für die Sprache der Jungs, für ihre Rituale und Umgangsformen. Die Schauspieler sind angeblich allesamt Laien aus dem Viertel und sie sind alle toll, die Sprache wurde von der deutschen Synchro gründlich verhunzt (Türksprech in Neapel, ich schwöre), aber das kennt man ja nicht anders. Streckenweise hat der Film fast dokumentarische Züge, dann wieder wähnen wir uns in einem ganz normalen Teenagerdrama, und dann rückt wieder das Thema Mafia in den Mittelpunkt. Die dramaturgischen Effekte sind angenehm diskret gestaltet, wir sehen hier kein selbstzweckhaftes Spektakel, kein unnötiges Melodrama, wir sehen eine Geschichte, die Menschen in gewissen Strukturen zeigt, und das ist weißgott dramatisch genug. Kleine fünfzehnjährige Jungs hantieren mit Sturmgewehren, fühlen sich wie die Herren der Stadt und haben parallel dazu die ganz normalen Sehnsüchte aller Jungs in diesem Alter, nur wird sich so etwas wie Normalität für sie niemals einstellen, nicht bei dem Weg, den sie gewählt haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Weg früher oder später in einem gewaltsamen Tod enden wird, ist extrem hoch, und auch das ist Teil des Dramas hier. Es gibt hier zu keiner Zeit moralische Abwägungen oder Beurteilungen, denn die Dinge sind, wie sie sind, und diejenigen, die augenblicklich damit leben, sind anscheinend nicht dafür verantwortlich, sie wurden in diese Welt hineingeboren und haben anscheinend auch keine Alternative, keine Wahl. Wieder ein Teil des Dramas, ein zutiefst deprimierender Eindruck vollkommener Ausweglosigkeit. Nicola hat den Eindruck, er entscheide sich gegen die Opferrolle, die der großen Mehrheit zugedacht ist, doch auf anderer Ebene ist er genau wie alle anderen ein Opfer der Verhältnisse, der Strukturen, in denen er leben muss. Dieser Film wirft einen fast schmerzhaft nüchternen Blick auf diese Welt, er zeigt weder besondere Anzeichen von Trauer noch von Wut, aber das ist wiederum auch gar nicht nötig, denn allein indem er die Dinge zeigt, wie sie sind, ruft er bei mir reichlich genug Wut und Trauer hervor, da bedarf es wirklich keiner Geschmacksverstärker.

 

   Alles in allem tolles, beeindruckendes, bewegendes Gegenwartskino aus Italien – hierzulande kaum zu sehen im Zeitalter des totalitären Wohlfühldogmas, aber gerade deswegen so kostbar und wichtig. (3.9.)