Portrait de la jeune fille en feu (Porträt einer jungen Frau in Flammen) von Céline Sciamma. Frankreich, 2019. Noémie Merlant, Adèle Haenel, Luàna Bajrami, Valeria Golino

   Die Bretagne im späteren 18. Jahrhundert, eine abgelegene Insel. Dort wohnt einsam in einem noblen Anwesen eine Familie, die nach dem Tod des Vaters nur noch aus der Gräfin italienischer Abkunft und ihrer Tochter Héloïse besteht, ergänzt um die junge Haushälterin Sophie. Die Tochter ist einem mailändischen Adeligen versprochen, der sie noch nie zu Gesicht bekommen hat, und zu diesem Zwecke unternimmt die Comtesse mehrere Versuche, sie von einem Porträtmaler verewigen zu lassen. Doch die junge Dame, die nach dem mysteriösen Tod ihrer Schwester durch einen Klippensturz aus ihrem Benediktinerkloster geholt und nach Hause zurückgebracht wurde, gibt sich äußerst spröd und unzugänglich, und so ist bislang jeder der Versuche Mamas gescheitert. Die Malerin Marianne ist der letzte Anlauf. Die Comtesse hat absichtlich eine Frau ausgewählt, denn die soll sich als Gesellschafterin ausgeben und das Porträt nebenbei aus dem Gedächtnis anfertigen. Nachdem die Frau Mama wieder verreist ist, sind die drei jungen Frauen allein in dem großen Haus, und es entwickelt sich eine intensive Dynamik zwischen ihnen, die alle Pläne schon bald über den Haufen wirft. Sophie wird schwanger und erleidet eine schmerzhafte Abtreibung, die natürlich unter absoluter Geheimhaltung erfolgen muss. Und Héloïse und Marianne, nach langer, hindernisreicher Annäherung, verlieben sich und erleben eine sehr enge und starke körperliche Beziehung, wobei beiden immer bewusst ist, dass mit Mamans Rückkehr das Ende dieser Zeit kommen wird und die Vermählung mit einem Fremden wartet. Marianne hofft bis zuletzt, dass sich Héloïse doch noch auflehnen wird gegen das ihr vorbestimmte Schicksal, doch das geschieht nicht, und so werden die beiden Frauen getrennt. Marianne hat das erwartete Porträt gemalt, die Comtesse zieht ihren Plan rigoros durch, und so wird Marianne die Geliebte nur noch zweimal sehen: Einmal als Porträt (das Bild eines anderen allerdings, die junge Mutter mit Kind) in einer Ausstellung, und einmal leibhaftig im Konzerthaus. Das ist auch das letzte, das wir sehen: Héloïse, allein in ihrer Loge sitzend, vom Sturm der Vivaldi-Musik überwältigt, zerrissen zwischen Trauer und Glück.

   Diese letzte Sequenz, die gefühlt minutenlang andauert, in Echtzeit vermutlich nur eine Minute oder so, und die Héloïse in dieser kurzen Zeit alle erdenklichen Gefühlszustände durchlaufen lässt, ist nur eine von vielen bemerkenswerten Momenten in diesem überaus bemerkenswerten Film, der keineswegs so kolportagehaft ist wie die Inhaltsangabe befürchten lässt, ganz im Gegenteil. Eine ebenso wunderbar poetische, zärtliche, eindringliche und doch auch spröde Liebesgeschichte, vor allem aber ein sehr konsequenter Frauenfilm – Männer kommen tatsächlich so gut wie gar nicht vor, höchstens ganz am Rande, und sie werden auch nicht vermisst, jedenfalls nicht von mir. Denn eigentlich sind sie ja leider dennoch stets präsent – sie machen die Gesetze, sie machen die Moral, sie beherrschen die Kunstszene. Frauen werden als Heiratsobjekt gehandelt, Frauen müssen ihre Nöte, an denen die Männer durchaus aktiv beteiligt waren, ganz allein und versteckt bewältigen, Frauen dürfen sich nicht trauen, ihre Gefühle frei und offen auszuleben. Wirklich 18. Jahrhundert…? Das heißt jetzt aber nicht, dass dies ein flammendes feministisches Pamphlet ist, es ist lediglich ein Film, der weibliche Themen und Befindlichkeiten mit völliger Selbstverständlichkeit ganz in den Mittelpunkt rückt und dazu eine Geschichte von Kunst und Liebe und Befreiung und Entdeckung zu erzählen. Die langsame Hinwendung der beiden Liebenden wird ohne viel Worte erzählt, als ein spannendes, erotisches Spiel aus Blicken, Posen, Gesten. Die eine, Marianne, ist schon weiter, weiß um ihre Gefühle, die andere muss sie erst erforschen, zulassen, sich dafür öffnen. Die dritte, Sophie, beobachtet und begleitet dieses Spiel scheinbar aus der Ferne der Hausmagd und dennoch sehr wachsam und hat die beiden letztlich in gewisser Hinsicht, auch was Erfahrungen angeht, längst überholt, sorgt zudem, wenn auch sicherlich unfreiwillig, für ein paar tiefe Momente weiblicher Solidarität. In Mariannes Malerei spiegelt sich dieses Spiel, der Kampf um Zuneigung, Nähe, Vertrautheit, zugleich die Angst vor dem Verlust und der Fremdheit. Manchmal musste ich direkt an Jacques Rivettes zeitloses Meisterwerk von der schönen Querulantin denken, wo die Kunst und die Gefühlswelt eine ähnlich faszinierend vielschichtige Beziehung eingingen, und auch wenn Céline Sciamma diesem Bereich natürlich längst nicht soviel Raum gibt wie einst Rivette, sind ihre Szenen, in denen Marianne versucht, die Persönlichkeit Héloïses mit Farben und Formen zu begreifen, zu erfassen und gleichzeitig ihre Gefühle für sie auf die Leinwand zu bringen, von besonderer poetischer Kraft und Spannung. Die optische Gestaltung ist glänzend, und natürlich hat mich die bretonische Landschaft von Anfang an begeistert, doch wird sie niemals zu sehr in den Vordergrund gerückt, dafür sorgt die Regie, die strikt auf die wenigen Personen fokussiert bleibt. Das ist erstens völlig folgerichtig, und wird zweitens getragen von den drei Hauptdarstellerinnen, besonders natürlich von Merlant und Haenel, die ganz toll zusammen sind und alle Facetten ihres Miteinanders brillant zur Geltung bringen.

 

   Also ist dies ein Kunstfilm und ein Kostümfilm und ein Liebesfilm und auch ein erotischer Film, alles in einem, alles bestens ausgewogen und wunderschön erzählt und gefilmt. Ein Genuss in jeder Hinsicht, und es macht mich wirklich froh zu sehen, dass die Franzosen inmitten all der Wohlfühlroutine, auf die sie sich ja doch spezialisiert zu haben scheinen, auch noch Werke hinkriegen, die an ihre großen Zeiten erinnern und qualitativ daran anknüpfen können. Und wenn ich jetzt so zurückblicke, hat es in diesem Jahr doch etliche davon gegeben. Das sollte mir doch weiter Hoffnung geben... (5.11.)