Celle que vous croyez (So wie du mich willst) von Safy Nebbou. Frankreich, 2019. Juliette Binoche, Nicole Garcia, François Civil, Guillaume Gouix, Jules Houplain, Jules Gauzelin, Marie-Ange Casta, Charles Berling
Wie ich’s auch wende und dreh – sie ist einfach nicht meine Welt, die Welt der sozialen Medien, der totalen Interaktion und Entblößung, die Welt der global community, der follower und influencer. Hoffnungslos old school, mag sein, aber mir fehlt irgendwie nichts, und ich ziehe jedes persönliche tête-â-tête noch immer einem noch so prickelnden Online-chat vor. Wahrscheinlich weiß ich gar nicht, was mir schon alles entgangen ist. Jedenfalls eignet sich diese Parallelwelt, die ja längst keine Parallelwelt mehr ist, sondern die eigentlich reale Welt, in der wir alle leben, ob wir nun wollen oder nicht (also, ich will zum Beispiel nicht), vorzüglich als Schauplatz für alle Formen von Filmstoffen, so auch für diesen hier, der als gepflegtes Pariser Intellektuellendrama daherkommt, aber dann gottlob doch einiges mehr zu bieten hat als nur gediegenen Tiefgang gekleidet in edle Bilder.
Claire ist Literaturdozentin, geschieden, zwei Kinder, aktuell mit deutlich jüngerem Liebhaber namens Ludo, der nun aber Abnutzungserscheinungen an den Tag legt und eigentlich nur Sex aus ist. Eigentlich eher aus spontanem Trotz und Mutwillen beschließt sie, dem Kerl mal auf den Zahn zu fühlen und legt sich ein Chat-Profil einer deutlich jüngeren Frau zu. Landen tut sie allerdings bei Ludos Kollegen Alex, der sofort anbeißt, und zwischen den beiden entwickelt sich eine intensive Online-Beziehung, die er natürlich dringend konkretisieren will, was sie wiederum nicht zulassen kann, denn als Lockfoto hat sie sich bei ihrer jungen, attraktive Nichte Katia bedient, die ihr, wie wir zum Schluss erst erfahren, einst den Ehemann weggeschnappt hat. Die Gemengelage wird immer komplizierter, zumal Claire diese ganze Geschichte ihrer neuen Psychiaterin Dr. Bormans erzählt und Realität und Imagination zunehmend zu verschwimmen scheinen. Claire hinterlässt der Ärztin zum Abschied ein Exposé, das angeblich die „Wahrheit“ über die Liebesgeschichte enthält, die dann scheinbar doch noch konkret und körperlich wird, doch von Ludo hört Dr. Bormans wiederum etwas vollkommen anderes, unter anderem eine sehr drastische Lüge über Alex‘ „Selbstmord“, der aber keiner war sonderlich wohl nur ein Trick, um von der fordernden, klammernden Claire wegzukommen und anderswo ein neues Leben beginnen zu können, nachdem Claires Lüge aufgeflogen ist. Claire ist gefangen in einer Realität, die sie selbst nicht mehr als Fiktion identifizieren kann, und obwohl sie behauptet, endgültig über alles hinweg zu sein, wissen wir es am Ende besser…
Drehbuch und Regie haben das sehr geschickt gemacht – der durchgängig sehr ruhige, fast meditative Erzählfluss ist besonders trügerisch, wenn sich gegen Ende Wendungen und Irritationen einstellen, und unsere Wahrnehmung und Interpretation in Unordnung geraten. Claires Version wird unzuverlässig, erratisch, fast psychiotisch, und uns Zuschauern ergeht ein so wie Fr. Dr. Bormans, die nicht mehr genau weiß, was und wem sie glauben soll. Sie muss sich zunächst an ihre Patientin halten – eine sensible, sinnliche, verletzliche Frau um die fünfzig, die begehrt werden will, die Sex und Spaß haben will, die aber auch eine verbindliche Beziehung haben will, die der gerade durch eine junge, attraktive Frau sehr viel Schmerz zugefügt wurde. Die Information, dass die junge Nichte der Auslöser der Trennung und ihrer tiefen Seelenkrise war, veranlasst mich natürlich, das zuvor Gesehene neu zu beurteilen, doch so spät im Film ist das nicht so leicht, zumal wir längst den Boden der sicheren Tatsachen verlassen haben. In klaren, schönen Großstadtbildern läuft ein Liebes- und Psychodrama aus dem Online-Zeitalter ab, das zwischendurch ebenso gut in Richtung eines doppelbödigen Thrillers abbiegen könnte, dies aber dann doch nicht so richtig tut. Es bleibt eine gewisse Melancholie, das Gefühl von Einsamkeit und Verlust und die sanfte Tragödie einer Frau, die etwas in Gang bringt, dann die Kontrolle darüber verliert und schließlich sich selbst darin verliert. Eine sehr reizvolle Aufgabe für Juliette Binoche, die in diesem Jahr enorm präsent ist im Kino (dies ist sage und schreibe der vierte Film mit ihr, den ich 2019 gesehen habe), die mich hier aber einmal mehr total begeistert und beeindruckt hat, weil sie der brüchigen Existenz Claires so viel Nuancen, Tiefe, Würde und Präsenz gibt und den Film souverän durch seine einhundert Minuten trägt. Eine großartige Vorstellung einer großartigen Schauspielerin, die allein das Kommen gelohnt hat, ein Film insgesamt, der mich ehrlich gesagt angenehm überrascht hat, von dem ich nicht sonderlich viel erwartet hatte. Schön, dass es auch mal in die andere Richtung läuft… (14.8.)