Napszállta (Sunset) von László Nemes. Ungarn/Frankreich, 2018. Juli Jakab, Evelin Dobos, Vlad Ivanov, Judit Bárdos, Marcin Czarnik, Mónika Balsai, Sándor Zsótér, Susanne Wuest
Noch so ein Zweieinhalbstundending bis spät in die Nacht, gottseidank immerhin eine Stunde früher. Während also in den großen Sälen die Prime Time mit bewährtem Wohlfühlkram gefüllt wird, spielt sich abseits eine andere Szenerie ab, und das fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit, sprich: Ich war ganz allein im Kino. Pech für alle anderen, kann ich da nur sagen, denn die haben wirklich was verpasst!
Ein weiteres Mysterium, keines aus Fernost, sondern eines aus Osteuropa, aus Ungarn genauer gesagt. Aus den letzten Jahren der glorreichen K.u.K.-Monarchie, noch genauer gesagt. Die junge Írisz Leiter kommt im Jahre 1913 zurück nach Budapest in ihre Heimatstadt, und sie just geradewegs den alten Hutmacherladen ihrer Eltern auf, den sie einst aufgebaut hatten und in dem sie, wie wir später schrittweise erfahren, offenbar bei einem Brand ums Leben kamen. Írisz geht davon aus, dass ihr Name Wirkung hat und sie selbstverständlich eine Anstellung im Geschäft bekommt, doch Brill, der neue Besitzer, gibt sich zögerlich, abwartend, und die jungen Mädels, die im Laden beschäftigt sind, feinden die geheimnisvolle neue Konkurrentin von der ersten Minute an. Írisz wird zunächst abgewiesen, doch Brill bringt es auch nicht übers Herz, sie einfach wieder aus der Stadt zu schicken, also besorgt er ihr ein Quartier in einer dubiosen Absteige, wo Írisz ominöse Dinge zu Ohren kommen, unter anderem Geschichten über ihren Bruder Kálman, den sie gar nicht kennt und der eine Art Teufel in Menschengestalt sein muss, ein brutaler und gemeiner Mörder. Írisz bekommt auf ihre immer dringenderen Fragen nirgendwo eine Antwort, stößt auf Abweisung, Ablehnung, Hass, Misstrauen, und jede der vielen Begegnungen in dieser Art stachelt ihre Entschlossenheit an, sich auf die Spur ihrer eigenen Vergangenheit, ihrer Familiengeschichte zu begeben. Sie kommt dabei nicht nur in Kontakt mit der Räuberbande ihres Bruders, einem wüsten, gewalttätigen Haufen, sondern auch auf die Spur einer Verbrecherbande in höchsten Kreisen, die junge Frauen verkauft, was bisweilen auch zu deren Tod führt. Írisz gerät in einen gefährlichen Strudel aus Gewalt und Gefahr, tötet einen Mann, der ihr Bruder sein könnte, wird Zeuge erbitterter Kämpfe zwischen Verbrechern unterschiedlicher Schichten, und erlebt schließlich den Untergang des Verbrecherrings, an dem auch Brill beteiligt ist. Und schließlich geht diese ganze ekelhafte Dekadenz unter im Grauen des ersten Weltkriegs, und wir sehen Írisz als Sanitäterin im Schützengraben, immer noch mit demselben starrenden, undurchdringlichen und dabei durchdringenden Blick, der darauf besteht, die Wahrheit zu erfahren.
László Nemes, dessen allgemein gefeierten Erstling „Son of Saul“ ich mir seinerzeit irgendwie nicht antun wollte, hat mit „Sunset“ etwas sehr Beachtliches geschaffen. Ein faszinierendes, abgründiges Zeitbild, eine flirrende, hochatmosphärische Meditation über den Untergang einer Epoche, eine düstere, noch abgründigere Kriminalgeschichte und das Porträt einer jungen Frau, die fast ständig im Bild zu sehen ist, der wir dennoch niemals wirklich nahe kommen, die kaum, etwas von sich preisgibt außer den Wunsch, die Schrecken und Geheimnisse ihrer eigenen Geschichte zu erforschen. Hier sind wir am Ende genauso aufgeschmissen wie sie, sind auf Vermutungen, Spekulationen, Gerüchte, ominöse Andeutungen angewiesen und dürfen einhundertvierzig Minuten lang versuchen, aus all den kleinen Teilchen ein halbwegs stimmiges Ganzes zusammenzusetzen. Selten ist es einem Filmemacher gelungen, dieses komplexe, komplizierte, suggestive Konglomerat aus Motiven und Spekulationen und Andeutungen in eine derart brillante Form zu bringen. Ein magischer, hypnotischer Erzählfluss, der sein langsames, mit Spannung aufgeladenes Tempo durchgehend hält, die trügerisch „schönen“ Bilder, die abwechseln mit düsteren Szenarien und mittendrin die von Juli Jakab unerhört effektvoll gestaltete junge Heldin, die weder Identifikationsfigur noch Projektionsfläche, nicht einmal eine richtige Heldin ist, die dennoch die Handlung unerbittlich vorantreibt, obwohl sie zumeist herumgestoßen wird und kaum jemals mehr als zwei Sätze am Stück äußert. Mit ihr tauchen wir ein in einer äußerlich edel schimmernde, im Innern völlig zerfressene und kaputte Welt, in der wohlhabende Herren junge Mädchen kaufen und verkaufen und misshandeln und auch töten, in der die hohen Herrschaften noch immer ihren obszön großspurigen Lebensstil pflegen als Schlag ins Gesicht der armen, benachteiligten Menschen, die mit wachsender Wut gegen das Bollwerk der Mächtigen anstürmen. Eine Welt am Rande des Abgrundes, täuschend schön bebildert, kunstvoll, großartig.
Sich all dies bis nach elf Uhr nachts anzuschauen erfordert Ausdauer und Geduld, doch beides wird reich belohnt mit einem außergewöhnlichen und in dieser Qualität und Intensität seltenen Kinoerlebnisses, das natürlich wieder Begehrlichkeiten weckt und hoffen lässt auf mehr starke Filme aus Osteuropa – doch was soll ich reden… (18.6.)