Systemsprenger von Nora Fingscheidt. BRD, 2019. Helena Zengler, Albrecht Schuch, Gabriela Maria Schmeide, Lisa Hagmeister, Melanie Straub, Maryam Zaree, Viktoria Trauttmansdorff

   Einmal tiiief atmen. Nach dem öden Distelfink da oben hatte ich ja kurzzeitig befürchtet, das Kino könne seine Wirkung und seine Magie für mich verloren haben, wenigstens zu einem Teil. Zwei Tage später nun bin ich zumindest von dieser Schreckensvision geheilt – lange schon hat mich kein Film so aufgewühlt und aufgebracht wie dieser, und wenn mir unmittelbar nach Verlassen des Kinos die falsche Person mit den falschen Worten gegenübergestanden hätte, ich weiß nicht, was geschehen wäre. Das liegt zum einen daran, dass ich mich persönlich und beruflich selbst angesprochen und betroffen gefühlt habe, und zum anderen vor allem daran, dass dieser Film so enorm stark und rau ist und mir eigentlich immer wieder direkt ins Gesicht gesprungen ist.

   Benni ist neun und offiziell als „Systemsprenger“ eingestuft (gut, dass wir hierzulande für alles eine Begrifflichkeit haben…). Ein seit frühester Kindheit offenbar schwer traumatisiertes Mädchen (darüber erfahren wir nur soviel, dass ihr immer wieder jemand volle Windeln aufs Gesicht gepresst hat), dessen wahnsinnige Wutausbrüche buchstäblich jedes System sprengen. Ihre Mutter, die noch zwei weitere kleinere Geschwister zu versorgen hat, ist hilflos und kann sich der Verantwortung nicht mehrt stellen, läuft am Ende buchstäblich von ihr davon. Frau Bafané vom Sozialamt tut was sie kann, um sie irgendwo passend unterzubringen, doch aus jeder Schule, jeder Pflegefamilie, jeder anders gearteten Unterbringung fliegt sie nach kürzester Zeit hinaus, weil nichts und niemand ihre Aggressionsschübe aushalten kann. Und so wird Benni weitergereicht von A nach B nach C und wieder zurück, und jeder ist jeweils nach Kräften bemüht und tut sein Bestes, und am Ende winkt entweder die geschlossene Jugendpsychiatrie, für die sie aber qua Definition noch zu jung ist, oder vielleicht eine Maßnahme weit weg im Ausland, wo manchmal „schwierige“ Jugendliche mit Erfolg therapiert wurden. Michael als erfahrener Jugendarbeiter im Bereich Gewalt schlägt vor, dass nur sie und er drei Wochen lang in einer abgeschiedenen Hütte in der Heide leben sollen, womit er bereits bei sechs älteren Jugendlichen gute Erfolge hatte. Die Zeit zu zweit ist sehr stress- und konfliktreich, aber trotzdem entsteht eine Art Beziehung zwischen den beiden, die Micha wiederum in Bedrängnis bringt, den Benni möchte plötzlich bei ihm zuhause einziehen, und er lässt sich auf eine Nacht ein, obwohl ihm klar ist, dass damit seine professionelle Distanz gefährdet ist. Bennis Mutter kündigt an, dass Benni nun wieder bei ihnen einziehen könne, weil ihre schwierige Beziehung zu einem Mann zu Ende sei, doch dann macht sie in letzter Sekunde einen Rückzieher, was Benni endgültig völlig aus der Bahn wirft. Sie versucht noch einmal, bei Micha und seiner jungen Familie unterzukommen, doch nachdem sie dort eine Nacht verbracht hat, gerät die Situation am folgenden Morgen bedrohlich aus den Fugen, weil sie sich mit dem just geborenen Baby im Bad einschließt, die verzweifelten Eltern die Tür einbrechen müssen und sie raus in den Wald flüchtet, wo sie später stark unterkühlt gefunden wird. Als letzter Ausweg wird nun Kenia angepeilt, doch auf dem Flughafen reißt Benni ein weiteres Mal aus und rennt einfach davon.

   Wut und Hilflosigkeit und Ohnmacht waren die bei mir vorherrschenden Gefühle. Die größte Stärke dieses Films liegt darin, dass er diese Gefühle nicht nur auf die Person Bennis lenkt, sondern auch den Blick auf das gesprengte System freigibt, denn jeder Systemsprenger ist ein Symptom und sollte das System eigentlich veranlassen, die Konsequenzen daraus zu ziehen. Das geschieht aber nicht, niemals, und das ist schon einer der wichtigsten Mängel dieses Systems. Ich bin als Altenpfleger ein Teil davon, und erlebe tagtäglich, wovon die Rede ist. Ein gewaltiger, teurer Apparat, randvoll mit „Experten“ und „Spezialisten“ und „Instituten“ und „Gutachten“, die pausenlos ganz neue, wichtige, erhellende Erkenntnisse produzieren, eine Studie nach der anderen, eine Statistik nach der nächsten, und dann noch eine Erhebung und noch eine Untersuchung. Ich kann überhaupt nicht in Worte fassen, wie sehr ich das Wort „Experte“ mittlerweile verabscheue, denn es steht für alles, was in der BRD seit Ewigkeiten falsch läuft. Geld ist theoretisch genug da, fachliches Knowhow theoretisch auch, und wenn die Arbeitsbedingungen nicht so furchtbar frustrierend und lähmend wären, gäbe es auch genügend gut ausgebildete, engagierte, motivierte Kräfte. In diesem Film sehe ich fast nur Menschen, die stets bemüht sind, die wirklich das Beste wollen, die bis an ihre eigenen Grenzen gehe, oder auch darüber hinaus, um den ihnen anvertrauten Menschen zu helfen. Und mit den ganz normalen Ausnahmen gilt das für den gesamten sozialen Apparat, würde ich mal behaupten. Allerdings mit deutlicher Tendenz nach unten, denn so, wie sich die verschiedenen Arbeitsfelder mittlerweile darstellen, ist es kaum noch möglich, seriöses junges Personal zu finden geschweige denn zu binden. Doch was geschieht? Man stimmt allgemein das große Jammern und Wehklagen über die neue Generation an, die keine Verantwortung mehr übernehmen will, statt ein einziges Mal auf politischer Ebene Verantwortung zu übernehmen und daran zu gehen, die Finanzierung des gesamten sozialen Sektors grundlegend auf andere Beine zu stellen, so wie es seit Jahren nötig wäre. Tja, ich könnte kotzen und kotzen, balle aber wie alle anderen nur die Faust in der Tasche (weil bei Kirchens nichts anderes gestattet ist) und mache weiter und versuche, weiterhin mein „Bestes“ zu tun. So wie die Leute hier – die Sozialarbeiterin, die Pädagogen, die Jugendhelfer, die Pflegefamilien, sogar die Mutter, denn die kann man natürlich auch nicht so einfach hinhängen und verurteilen, die hat schlicht und einfach Angst vor ihrem eigenen Kind, weil sie weiß, dass sie sie im Ernstfall nicht unter Kontrolle hat. Niemand wird hier im Übrigen verurteilt oder an den Pranger gestellt, sie alle sind Rädchen in einem System, das ebenso teuer wie aufgebläht wie ineffektiv ist. Und natürlich kann es immer vorkommen, dass jemand das System sprengt und überfordert, keine Frage, doch was Benni hier erlebt, ist schon symptomatisch. Alle wissen eigentlich, was ihr fehlt, was das Kernproblem ist. Sie braucht ihre Mutter oder ersatzweise einen festen Bezug, eine neue Familie, und was geschieht, ist das genaue Gegenteil, sie wird pausenlos von einem zum nächsten geschoben und macht immer wieder die gleiche Erfahrung, nicht gewollt, nicht geliebt zu werden, nicht zuhause zu sein. Jede einzelne Institution reagiert dabei reflexhaft auf die Überforderung, indem sie versucht, sie loszuwerden, weil es einfach keine Alternativen gibt, keine personellen und strukturellen Möglichkeiten, auf diesen besonderen Fall anders einzugehen als gewohnt. Das Schema steht fest und es wird eingehalten, und innerhalb des Schemas gibt es wenig bis keinen Handlungsspielraum, und dass Leute wie Frau Banafé und Micha sich wirklich mit Herzblut reinhängen, ehrt sie, ändert aber nichts, weil das System eben so starr ist.

   Genug gepredigt. „Systemsprenger“ ist heftig und drängend und intensiv, grandios gespielt, vor allem von dem Mädchen. Die Regisseurin findet eindrucksvolle Bilder für die Zustände, in die sich Benni immer wieder hineinsteigert, die rasenden Blackouts, wenn die Leinwand plötzlich rosa, rot, blind wird und Fetzen von früher auftauchen. Denn nicht nur das System Sozialfürsorge wird ständig gesprengt, auch Bennis eigenes System, wenn sie ihrer Wut genauso hilflos ausgeliefert ist wie ihre Umgebung, wenn sie buchstäblich rot sieht und ihre Einsamkeit und Ängste nur noch mit Schreien und Umsichschlagen abreagieren kann. Es geht hier letztlich nicht darum, Schuld und Verantwortung gegeneinander aufzurechnen und schon gar nicht einseitig zu verteilen, denn die beiden Systeme sind gar nicht miteinander vergleichbar. Sauf der einen Seite steht ein neunjähriges Mädchen, das Opfer eines Traumas wurde und nun nirgendwo hinzugehören scheint. Auf der anderen Seite steht, wenn man so will, ein hochgerüsteter, mit Fachkompetenz und finanziellen Mitteln reich angefütterter Apparat, der seine Möglichkeiten einfach nicht zielgerichtet und effektiv einsetzen kann und der in seiner Unbeweglichkeit letztlich genauso machtlos und ohnmächtig ist wie ich als Zuschauer.

 

   Sicherlich ist der Film nicht in allem perfekt, er ist zumal für meinen Geschmack bestimmt um zehn Minuten zu lang, vor allem gegen Ende, doch gerade in seiner unbehauenen Art ist er mir in jedem Fall lieber als ein glatt gedrechseltes Fertigprodukt von der Stange. Filme sie „Systemsprenger“ sind selten, sie sind kostbar, unter anderem weil sie geeignet sind, mir den Glauben ans Kino zurückzugeben. (2.10.)