The White Crow von Ralph Fiennes. England, 2018. Oleg Ivenko, Adèle Exarchopoulos, Chulpan Chamatova, Ralph Fiennes, Aleksey Morozow, Anastasiya Meskowa, Louis Hofmann, Sergei Polunin, Raphaël Personnaz, Olivier Rabourdin, Dmitriy Karanewskiy, Nadezhda Markina

   Die weiße Krähe, so belehrt mich der Vorspann, ist eine alte russische Bezeichnung für einen Unangepassten, einen, der sich nicht leicht einfügt, einen Außenseiter. So einen bekommen wir hier zwei Stunden lang zu sehen, in der Person Rudolf Nurejews, die wir in chronologisch sehr verschachtelten Episoden von der Geburt bis ins Jahr 1961 begleiten. Dort begibt es sich am Pariser Flughafen Le Bourget, dass die für eine kleine Europatournee jenseits des Eisernen Vorhangs auftretende russische Tanzgruppe eigentlich weiter nach London fliegen soll, einer jedoch, der eigenwillige, eigensinnige, sperrige neue Startänzer Rudolf Nurejew, wird von russischen Geheimdienstleuten aufgehalten und soll zurück nach Moskau gelotst werden. Da sein Verhalten bereits in der Vergangenheit für Unmut und Kritik daheim gesorgt hat, befürchtet Nurejew, dass ihn in Moskau Repressalien oder noch Schlimmeres erwarten und er weigert sich, die Maschine nach Moskau zu besteigen. In seiner Not holt er seine französische Freundin Clara zu Hilfe, und die reagiert instinktiv richtig, wendet sich an die Flughafenpolizei und instruiert Rudolf danach, dass er sich direkt an die Beamten wenden und um politisches Asyl ersuchen muss. Es folgt ein heftiges und dramatisches Ringen um den Künstler, der sich am Ende für den Weg in den Westen entscheidet und damit sein weiteres Schicksal bestimmt.

   Zuvor sehen wir seine Geburt in einer Eisenbahn in Sibirien, Impressionen aus der rauen, entbehrungsreichen Kindheit, erste Tanzstunden als kleiner, aber bereits zu allem entschlossener Knirps, dann der erste größere Kampf um die Aufnahme bei der von ihm begehrten Ballettschule, wo er tatsächlich Schüler des renommierten Alexander Puschkin wird. Mit ihm und vor allem seiner Frau wird ihn eine komplexe, vieldeutige Beziehung verbinden, die ihm nach einem schweren Sturz aber maßgeblich hilft, wieder auf die Beine und zum Tanzen zu kommen, statt zu einer mehrjährigen zwangspause verurteilt zu sein, wie von den Ärzten prognostiziert. Der erfahrene, bedächtige Puschkin erkennt genau, dass Nurejew ein phänomenales Talent hat, dass ihm aber seine Impulsivität, sein oft unkontrolliertes Temperament und seine innerlich schwierig verknotete Seele im Weg stehen. Er hat wenig Freunde, eckt oft wegen seiner vermeintlichen Arroganz und seines herausfordernden Auftretens an, und als der dann die Chance bekommt, mit dem Petersburger Ballett in Paris aufzutreten und vor allem womöglich Kontakt zu den berühmtesten französischen Ballettstars zu haben, weiß der Geheimdienst schon, dass man diesen Nurejew ganz genau im Auge behalten muss. Die Situation in Paris nimmt dann zum Teil groteske Ausmaße an. Die Tänzer werden wie die kleinen Kinder auf Schritt und Tritt begleitet und überwacht, damit sie auch ja nichts Dummes anstellen, zu spät nach Hause kommen oder gar zu engen Kontakt mit dem westlichen Feind aufnehmen. Damit provozieren die Offiziellen natürlich unweigerlich Widerstand, vor allem Nurejew ist nicht bereit, sich diesen lächerlichen Schikanen widerspruchslos auszuliefern. Er ignoriert die Vorschriften bewusst, zieht auf eigenen Faust los, macht in Paris Bekanntschaften mit Tänzern und anderen, streift durch die Museen und lässt sich von Gemälden inspirieren und knüpft eine Art von Freundschaft zu der besagten Clara, die familiär mit André Malraux verbandelt ist, was sie letztlich bei der Flughafenpolizei von le Bourget an geeigneter Stelle erwähnt. Freundschaft ist im Falle Nurejews allerdings nur ein relativer Begriff, denn dieser Mann ist ganz von sich und seiner Kunst erfüllt und kaum imstande, eine wirklich tiefe, gegenseitige menschliche Verbindung aufrecht zu erhalten. Den gleichen kompromisslosen Anspruch, den er an sich selbst stellt, formuliert er auch anderen gegenüber, seinen verschiedenen männlichen Liebschaften und auch seinen Kollegen und Lehrern. Er bleibt immer the white crow, bewundert und sperrig zugleich.

   Ralph Fiennes hat daraus keinen Tanzfilm gemacht, sondern eine sorgfältig geschriebene und inszenierte Charakter- und Zeitstudie, denn wenn es vorrangig natürlich um Nurejew, seine Kunst und sein Leben geht, spielt auch die Epoche, in der er lebt und mit der er sich zwangsläufig immer wieder auseinandersetzen muss, eine gewichtige Rolle. Fiennes und sein Autor David Hare konzentrieren sich trotz der ständig hin- und herschwenkenden Handlungszeiträume sehr gekonnt auf das Zwischenmenschliche, das Atmosphärische und auch das (Kultur-) Politische, denn es ist vollkommen klar, dass ein russischer Künstler in den späten 50ern und frühen 60ern nie und nimmer frei von allen Einflüssen des Kalten Krieges bleiben konnte. Er sei an Politik nicht interessiert, äußert Nurejew an einer Stelle, und so wie er hier dargestellt wird, wirkt diese Feststellung glaubwürdig. Woran er einzig interessiert zu sein scheint, ist, sich als Tänzer, als Künstler auszudrücken und zu verwirklichen, ganz egal, unter welchen Bedingungen. Da nimmt er schon einiges auf sich, daheim in Russland zunächst, und später dann auf dieser merkwürdigen Tournee sowieso. In dieser Richtung sind dann sicherlich auch die Beweggründe für seine Entscheidung am Flughafen zu suchen. Er scheint nicht in Dimensionen wie West und Ost, Kapitalismus oder Kommunismus zu denken, er strebt nach größtmöglicher Freiheit für seine Kunst, und dafür nimmt er letztlich auch in Kauf, seine Familie möglicherweise nie wieder sehen zu können.

 

   Im Rahmen eines solchen Zweistundenfilms ist es schlechterdings unmöglich, alle Aspekte aus Kunst, Privatleben, Familie, Liebesbeziehungen und dergleichen erschöpfen und ausgewogen abzuhandeln, aber ich finde, unter diesen Voraussetzungen ist das hier ziemlich überzeugend gelungen. Der Film ist eher ruhig und gemessen im Tempo, was mir sehr gefallen hat, er fängt wesentliche Momente vortrefflich ein, besticht durch gute Dialoge und exzellente Darsteller und ein treffliches Gespür für Stimmungen. In vieler Hinsicht kommt der Film wie klassisches Erzähl- und Schauspielerkino rüber, ohne große Effekte, ohne aufgeplustertes Drama, sogar die zwischenzeitlich eingebauten Tanzszenen werden nicht ihrer spektakulären Wirkung wegen eingesetzt, sondern um Nurejews ganz spezielle, eigene Form der Körperlichkeit und Athletik zu demonstrieren. Oleg Ivenko, ein ukrainischer Tänzer, macht nicht nur an dieser Stelle eine besonders starke Figur und gibt ein rundherum sehr eindrucksvolles Porträt des schwierigen Künstlers Nurejew. Unter all den vielen Künstlerbiographien der letzten Jahre ist dies sicherlich eine der besseren, aber eher für jene, die Geduld und Muße mitbringen und sich auf eine gemäßigte Gangart einlassen können. (8.10.)