Troppa Grazia von Gianni Zanasi. Italien, 2018. Alba Rohrwacher, Elio Germani, Rosa Vannucci, Carlotta Natoli, Hadas Yaron, Giuseppe Battiston, Thomas Trabacchi, Daniele de Angelis
Lucia ist Landvermesserin und momentan irgendwie von der Rolle. Die Ehe mit ihrem Mann Arturo geht geradewegs den Bach runter, zur trotzig pubertierenden Tochter Rosa kriegt sie nur noch schwer Kontakt, und das große Bauvorhaben, in das sie sich mit einem dreisten Trick einschleichen kann, entpuppt sich als windiger Deal mit einschlägigen lokalen Gestalten, die ihr bald klarmachen, dass sie nicht so sehr an präzisen Vermessungsdaten interessiert sind als vielmehr an einer für alle lukrativen Abwicklung. Eines Tages hockt neben ihr im Feld eine etwas zerlumpte Frau im Umhang, die Lucia zunächst für eine Flüchtlingsfrau hält, die sich aber nach einiger Zeit als Maria, Mutter Gottes ausgibt. Lucia ist nicht gerade die gläubigste Italienerin unter der Sonne und hält das Ganze erstmal für ausgemachten Hokuspokus, doch die besagte Dame kreuzt von nun an zu jeder passenden und vor allem unpassenden Gelegenheit ihren Weg und stellt eine konkrete Forderung: Gehe dorthin, wo ihr zu bauen gedenkt und errichte an diesem Ort eine Kirche. Lucia will die Flucht ergreifen, doch Maria erweist sich als äußerst zupackend und verleiht ihrer Aufforderung jeden erdenklichen Nachdruck. Die ohnehin recht dünnhäutige Lucia balanciert von nun an haarscharf am totalen Zusammenbruch, mitleidig und völlig verständnislos beäugt von ihren Mitmenschen, denn außer ihr kann natürlich niemand die Jungfrau Maria sehen. Es kommt zu einigen grotesken Slapstickauftritten Lucias, an deren Ende unweigerlich der Therapeut wartet, doch wie alle anderen auch kann er ihr nicht helfen. Immerhin schmeißt sich Arturo wieder an sie heran und auch Rosa lockert ihre zickige Grundhaltung ein wenig. Am Schluss dann hilft ihr Arturo, den heiligen Auftrag zu erfüllen: Er bearbeitet das bereits abgesteckte Bauland mit Sprengstoff, reißt die Erde auf und gibt Lucia und Rosa die Möglichkeit, eine märchenhafte unterirdische Höhle zu betreten.
Gut, dass wir sie haben, die Italiener! Sowas wie das hier kann wirklich nur von ihnen kommen, niemand sonst würde diese total schräge, skurrile Mischung aus Groteske, Spiritualität und Gesellschaftssatire so wunderbar elegant und formschön hinkriegen. Sonnenüberflutete, ländliche, an die toskanische Landschaft erinnernde Impressionen bilden einen ebenso idyllischen wie trügerischen Rahmen für eine Erzählung, die vom schlagfertigen täglichen Ehescharmützel bis hin zu wunderlichsten Momenten jede Menge amüsanter Augenblicke bereithält, gemischt mit versponnener Poesie und einem mehrdeutigen und angenehm irritierenden Umgang mit dem Übernatürlichen, dem Spirituellen. Wieso es ausgerechnet die überaus unreligiöse und erdverbundene Lucia trifft, erfahren wir gleich zu Beginn, wo die kleine Lucia im Schoß ihrer Mutter auf dem abendlichen Feld von einer Art Erscheinung überrascht wird, einem hellen Lichtstrahl, der hinter einem Wald verschwindet und nochmals aufscheint und Mutter und Tochter in andächtiges Staunen versetzt. Der Schnitt hinüber zu Lucias alles andere als feierlichem Alltag gehört zu den vielen Unberechenbarkeiten hier. Nie kann ich ganz sicher sein, was um die nächste Ecke kommt, zumindest von dem Moment an nicht, da die eigenartige Jungfrau Maria zum ersten Mal in Erscheinung tritt. Die anfangs milde, sanfte Frau im klassischen Look wandelt sich bei Bedarf in eine durchaus bedrohliche und beharrliche Erscheinung, die Lucia so lange zusetzt mit ihrer Forderung nach einer Kirche, bis Lucia erkennt, dass sie aus dieser Situation wohl nicht mehr einfach so herauskommen wird. Ihre zum Teil recht physischen Auseinandersetzungen mit Maria, die eben nur sie sieht, sind umso witziger und wirkungsvoller, da die Welt, in der sie lebt und von der sie aktuell mehr las genervt und überfordert ist, vollkommen irdisch, modern und ungeistlich ist. Ihr Arturo ist ein netter Schluffi, der nach Männerart mal wieder die Signale so lange übersieht, bis alles auf Rot steht. Ihre Rosa ist ein typisches Teeniemädchen, sperrig und launisch, ständig auf der Suche nach sich selbst. Beruflich hat sie es mit Gestalten zu tun, die auf ihre gepflegte, gediegene Art eher in mafiöse Kreise passen würden und dort vielleicht auch hingehören, denn da wird gekungelt und gemauschelt, da werden Vorschriften hingebogen, und alles in allem geht es in erster Linie ums Geld, um den Profit, um das Geschäft. Die pedantische, gewissenhafte Landvermesserin Lucia kapiert ziemlich bald, was los ist und gerät mit ihren Auftraggebern mehrmals aneinander, verliert aber aufgrund einiger bizarrer Auftritte völlig an Glaubwürdigkeit und Respekt, und wenn man sie so durch das geschlossene Fenster gegen die unsichtbare Jungfrau kämpfen sieht, also eher eine wilde Pantomime vollführen sieht, fällt es natürlich auch schwer, ihrer Stimme irgendein Gewicht zu geben. Sie findet sich bald in der Schublade total überreizten, hysterischen Ehefrau und Mutter wieder, die ihr Leben nicht mehr recht auf die Reihe kriegt und deshalb nur noch ausflippt. Das offensichtliche Unverständnis ihrer Mitmenschen einerseits, die drohende Entfremdung von der Familie, die wacklige berufliche Lage und die unerklärlichen Konfrontationen mit der Muttergottes setzen Lucia in der Tat arg zu, und erst als sich Mutter, Tochter und Vater getrennt aber parallel aufraffen und wieder aufeinander zugehen, scheint die Zukunft offen für etwas Neues zu sein. Am steigen Mutter und Tochter immer tiefer in eine verwunschene Unterwelt, eine verschüttete uralte Kathedrale oder was auch immer, nachdem Paps mit seiner tollkühnen Bombenaktion buchstäblich den Erdboden aufgerissen hat.
Spaß machen hier der sehr vielfältige, tolle Humor und die letztlich offenen Deutungsmöglichkeiten der Ereignisse. Diese Geschichte könnte vieles bedeuten oder gar nichts. Wunderlich und schön ist sie aber trotzdem. (26.11.)