Und der Zukunft zugewandt von Bernd Böhlich. BRD, 2019. Alexandra Maria Lara, Robert Stadlober, Stefan Kurt, Carlotta von Falkenhayn, Karoline Eichhorn, Barbara Schnitzler, Swetlana Schönfeld, Jürgen Tarrach, Peter Kurth, Branko Samarovski

Ein Film mit Langzeitwirkung, unter anderem. Am nächsten Morgen erst kam mir der letzte Satz des Films ins Gedächtnis und mir wurde die unfassbare Vieldeutigkeit und Tragik klar, die hinter diesem Satz steckt, vor allem, wenn man ihn mit der allerersten Szene in Zusammenhang bringt: „Jetzt fangen wir ganz neu an,“ sagte am Schluss Antonia, nachdem sie über zehn Jahre im Gulag überlebte und mit ihrer dort geborenen Tochter Lydia und zwei Mitinsassinnen unverhofft nach Berlin kommt, weil der Sohn von Wilhelm Pieck ein paar Strippen gezogen hat. Wenn sie diesen Satz sagt, hat sie aber noch viel mehr hinter sich, und eigentlich hätte ich ihn völlig anders gedeutet. Aber aus der ersten Szene wissen wir, dass Antonia tatsächlich in der DDR geblieben ist, trotz allem, und zwar bis zum bitteren Ende 1989, das für sie tatsächlich bitter ist, de endgültige und nicht mehr abzuwendende Untergang ihres großen Traums vom gelebten Kommunismus. Und während draußen die Menschen die Freiheit feiern, hockt sie als alte Frau oben in ihrer Wohnung und weiß wohl selbst nicht, wieso sie bis zuletzt an diesem wahnhaften Traum festgehalten hat.

   Aber zurück zum Anfang: Drei Frauen und ein schwer infiziertes Mädchen kommen also 1952 aus Workuta in Sibirien heim nach Ostberlin. Alle schwer gezeichnet von vielen Jahren im Lager und untermenschlichen Bedingungen, Hunger, Angst, Kälte, Hoffnungslosigkeit. Antonias Mann wird erschossen, weil er am Geburtstag seiner Tochter rüber ins Frauenlager macht, der Leichnam wird ihr direkt vor die Füße geworfen. Und wenn in der DDR niemand interveniert hätte, wer weiß, wann sie freigekommen wäre. Und nun stehen diese Leute in der Hauptstadt der ganz neu gegründeten Republik, und niemand weiß, was man mit ihnen anfangen soll. Eins aber ist ganz klar: Niemand darf die Wahrheit erfahren, die drei Frauen müssen absolutes Stillschweigen über ihre Vergangenheit bewahren. Denn wer soll schon glauben, dass sich im Mutterland Sowjetunion so etwas zutragen kann? Menschen werden ohne Grund inhaftiert, jahrelang weggesperrt, massenhaft ermordet? Und das, wo der Genosse Stalin doch das leuchtende, strahlende Vorbild aller DDR-Bürger ist und deshalb sein Porträt in Öl in jeder guten Stube zu hängen hat. Ganz unfassbar daran ist, dass diese Verbrechen auch an überzeugten Kommunisten verübt werden, denn Antonia war seit den frühen Dreißigern Mitglied der Roten Kolonne, und die Einladung nach Moskau war für die glühende Parteigängerin einst die höchste Weihe. Auch jetzt noch, nach mehr als zehn Jahren in der Hölle, glaubt sie an die Sache, wenn auch nicht mehr an die Sache des Genossen Stalin. Die Heimkehrer jedenfalls werden von einigen Parteikadern in Empfang genommen und gründlich gebrieft: Sie bekommen eine Wohnung, einen Job, eine sichere Existenz im Paradies der Werktätigen, unter der einen Bedingung, dass sie niemandem erzählen, was ihnen in der Sowjetunion widerfahren ist. Antonia unterschreibt den Deal sofort, weil sie vor allem an ihre schwer kranke Tochter denkt, ihre beiden Gefährtinnen tun sich da schon schwerer, Susanne begehrt ganz offen auf, fügt sich dann letztlich aber doch. Antonia und Lydia beziehen eine frisch renovierte Wohnung, kriegen einen der ersten Fernseher des Landes ins Zimmer gestellt, und Antonia kriegt einen Job im Kultursektor, wo sie einst auch schon tätig gewesen war. Lydia wird im Krankenhaus erfolgreich behandelt, und Antonia freudnet sich mit dem jungen Arzt Konrad an, einem überzeugten Kommunisten wie sie, der sich weigert, die Praxis des Vaters in Hamburg zu übernehmen, weil er lieber mithelfen will, die junge Republik mit aufzubauen. Antonia nimmt Kontakt zu ihrer Mutter auf, die über ihr Schicksal vollkommen im Unklaren war und jetzt erstmal nichts Richtiges fühlen kann. Ihr Vater ist vor kurzem gestorben, hatte bis zuletzt auf ein Zeichen von ihr gehofft. Antonia und Konrad kommen sich näher, und je dringender ihr Bedürfnis wird, sich auszusprechen, von sich zu berichten, desto größer wird der Druck von außen, bis es zum Knall kommt, Antonia ihrem Konrad alles erzählt und dafür im Gefängnis landet. Sie kommt jedoch bald wieder frei und beschließt, mit Mutter und Tochter ganz neu anzufangen.

   Viel mehr als die Geschichte einiger Bürger in dieser Zeit ist dies das Psychogramm eines Systems, das maßgeblich auf zwei Verleugnungen aufgebaut worden war: Jegliche Verantwortung für die Verbrechen der Nazis wird abgelehnt und damit jede Aufarbeitung der Geschichte unterbunden. Und die Sowjetunion wird in Person des Genossen Stalin als großes Vorbild und Ideal einer kommunistischen Gesellschaft verherrlicht, all das Wissen über den katastrophalen Terror, der dort schon seit zwei Jahrzehnten herrscht, wird negiert oder mehr noch, als westliche Propaganda diffamiert. Ist dies ein tragfähiges Fundament für einen Staat, eine Gesellschaft, eine Zukunft? Die Antwort ist klar und sie wird in diesem Film auf verschiedene Weise mehrmals deutlich formuliert, bis die Menschen selbst es 1989 endlich schaffen, die Verhältnisse von Grund auf umzustürzen. All das gilt aber nicht für Antonia, und das ist eines der vielen Themen hier, die mich tief getroffen und noch lange beschäftigt haben. Wie kann ein Mensch, der in der einst so angebeteten Sowjetunion erlebt hat, was sie erlebt hat, und dem nun offenbar wird, dass auch die DDR in erster Linie auf Lügen und Schweigen setzt, trotzdem noch dreieinhalb Jahrzehnte an dem System festhalten, buchstäblich bis zuletzt? Wie kann ein ganzer Staat verdrängen, was nebenan im Osten geschieht und schon sehr lange geschieht, Millionen und Abermillionen Tote durch Staatsterror, Hunger, Willkür, und wie kann dieses Regime im Gegenteil noch als Vorbild, Idol, Ideal gelten? Man erlebt hier richtig mit, wie heftig sich alle Beteiligten daran abarbeiten, wie wild entschlossen sie sind, ihren Sozialismus um jeden Preis durchzuziehen und sich auf jeden Fall immer an den großen Bruder im Osten zu halten. Einer der Stasimänner zeigt Antonia sein in Buchenwald verlorenes Bein: Sieh her, ich bin ich Lager gewesen, das was du erlebt hast, ist nur Lüge. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Wir werden über alles reden, trichtert ihr der Mann von der Partei immer wieder ein, nur noch nicht jetzt. Antonias kritischere Freundin Susanne weiß, dass dieser Moment niemals kommen wird, doch findet sie für ihren Zorn und ihre Verbitterung kein Publikum. Antonias versucht, sich zu arrangieren, versucht, die groteske Verabredung einzuhalten, doch sie kommt immer wieder an den Punkt, an dem ihr klare wird, dass sie ihr gesamtes weiteres Leben unmöglich auf Lügen und Schweigen aufbauen kann. Wie aber ist ihr letzter Satz zu verstehen? Keine Lügen mehr von nun an? Wie hat sie dann bis zuletzt in der DDR leben können?

 

   Ein faszinierend intensiver Film, sowohl inszenatorisch als auch schauspielerisch grandios, und in Anbetracht der Tatsache, dass Bernd Böhlich seit über zehn Jahren (genauer gesagt seit „Du bist nicht allein“) nichts Nennenswertes mehr hervorgebracht und sich weitgehend im TV-Einerlei getummelt hat, für mich eine überaus positive Überraschung. Böhlich inszeniert mit eindrucksvollem Gespür für die Situation, das Zwischenmenschliche, den Tonfall, er kondensiert selbst komplexeste Zusammenhänge in einer kurzen Sequenz und kommt ganz ohne die befürchtete seifige Glätte und das gefällige Melodrama aus. Der Film ist sehr ruhig, konzentriert, zutiefst ernsthaft und lässt bis zuletzt die Zerrissenheit und Not seiner Figuren (auch der DDR-Kader wohlgemerkt) fast schmerzhaft nachfühlbar werden. Ein Staat auf der fast verzweifelten Suche nach seiner Legitimation und einige Opfer auf der verzweifelten Suche nach Gehör. Einen besseren Film über die DDR in welchem Zusammenhang auch immer habe ich bisher nicht gesehen, jedenfalls nicht aus neueren Tagen und unter Auslassung einiger DEFA-Klassiker. Und ich würde mich sehr freuen, wenn auch weiterhin wenigstens ab und zu mal etwas von dieser Klasse möglich gemacht werden kann. (10.9.)