Berlin Alexanderplatz von Burhan Qurbani. BRD/Niederlande, 2019. Welket Bungué, Jella Haase, Albrecht Schuch, Annabelle Mandeng, Joachim Król, Nils Verkooijen, Thelma Buabeng

   Wenn ich einen Film mit diesem Titel anschaue, erwarte ich vermutlich eine Verfilmung des Romans von Alfred Döblin. „Frei nach“ steht dann verschiedentlich zu lesen, und ich verstehe schon, dass dies keine wortgetreue Wiedergabe sein wird, sondern eine zeitgemäße, moderne Version aus dem Berlin von heute. Darauf kann ich mich einstellen. Gute drei Stunden später (die mir im Gegensatz zu meinem ewigen Mitstreiter durchaus nicht kurz erschienen) sehe ich mich leider ein wenig gespalten: Der Filmfan hat einen durchaus vitalen und streckenweise ziemlich eindrucksvollen Film gesehen, der Bücherfan ist nicht zufrieden, denn was von dem, was den Roman so besonders macht, fehlt – muss fast zwangsläufig fehlen, fehlte auch in den Adaptionen zuvor, aber eben auch hier.

   Was geblieben ist: Die Passionsgeschichte des Franz Biberkopf. Der heißt jetzt Francis, stammt aus Guinea-Bissau, kam als Flüchtling übers Meer, wo er seine Frau verlor (wie man später ahnt, hat er sie möglicherweise geopfert, um selbst zu überleben), und nachdem er bislang in seinem Leben viel Böses angerichtet hat, strandet er nun in Berlin mit dem festen Vorsatz, fortan nur Gutes zu tun wollen. Dieser Struktur folgt der Film weitgehend: Die unselige Allianz mit dem Verbrecher Reinhold, die Liebe zur Prostituierten Mieze, der Armverlust nach einem Raub und all das unabwendbare Unheil bis hin zur finalen Läuterung nach Gefängnisstrafe. Diesen Teil finde ich, übersetzt dieser neue Film sehr gut und überzeugend in schillernde, starke, faszinierende Bilder. Der etwas einfältige, etwas schlichte, vor allem leicht beeinflussbare Francis, hin- und hergerissen zwischen Gut und Böse, zwischen Liebe und Gewalt, und vollkommen unfähig, seinen eigenen Weg dazwischen zu finden. So sehr er sich einerseits danach sehnt, an Miezes Seite ein ganz normales bürgerliches Leben zu führen, so sehr verfällt er andererseits immer wieder den dunklen Verlockungen Reinholds. Der wird hier vielleicht ein wenig überzogen als dämonischer Psychopath gezeichnet, dessen rücksichtslose Manipulationen jedermann dermaßen klar vor Augen stehen, dass es unfassbar erscheint, dass Francis nicht sieht, worauf er sich einlässt, obwohl er von allen Seiten gewarnt wird, sogar von dem Gangsterkönig Pums, dem der unberechenbare Irre auch nicht mehr geheuer ist. Die Tragödie eines Blinden, möchte man meinen.

   Obwohl die schrillen Partyszenen für meinen Geschmack deutlich zu ausufernd sind und auf die Dauer wenig Erleuchtendes bieten, beeindrucken die optische und musikalische Gestaltung durchaus, die dynamische Bildersprache, das fieberhaft Düstere, Schicksalhafte, aber auch zwischendurch die Momente des Friedens und der Hoffnung. Die Schauspieler sind zudem höchst eindrucksvoll, und so könnte ein rundherum überzeugendes modernes Großstadtdrama, sogar mit politischen Untertönen entstehen, denn was da über Francis und die anderen Immigranten gesagt und gezeigt wird, taugt durchaus als Kommentar zum Stand der Dinge heutzutage.

   Aber etwas fehlt dem Film, damit er zum Literaturfilm wird, oder? Zum einen die Sprache. Das ist natürlich kompliziert, zumal bei einem Roman wie diesem, der Sprache sehr viel anders und innovativer handhabt als andere Werke ihrer Zeit. Die Idee, inmitten des modernen Jargons zwischendurch mal ein paar Brocken „älterer“ Sprache einzubauen, geht eher nach hinten los, finde ich, macht aus dem ganzen noch lange kein großes zeitloses Epos, sorgt bei mir mehr für Befremden als alles andere. Noch eklatanter aber ist das Fehlen einer anderen Komponente, die unbedingt hätte drin sein müssen, allein schon, um dem Filmtitel Rechnung zu tragen: Berlin – ist für mein Empfinden so gut wie gar nicht präsent, wenn man von den üblichen gelegentlichen Blicken auf den Alexturm mal absieht. Und Berlin ist eine Hauptperson des Romans, und muss es unbedingt auch im Film sein. Dazu ist Qurbani leider nicht viel bis gar nichts eingefallen, keine interessanten Milieuschilderungen, kein aktueller Bezug zum Lebensgefühl in Berlin heute. Döblin hat unendlich viele Varianten ausprobiert, um sich der Faszination der brummenden Weltstadt in den Jahren der Weimarer Republik zu nähern – Qurbanis Film bleibt in dieser Beziehung vollkommen blank. Ich schaue zurzeit die ziemlich beachtliche Serie „4 Blocks“, die in dieser Hinsicht ungleich mehr zu bieten hat. Qurbani präsentiert eine nächtliche Parallelwelt, Huren, Gangster, Transvestiten, die aber mit der sie umgebenden Stadt kaum Berührungspunkte zu haben scheint. Wer also etwas über Berlin sehen will, oder meinetwegen über eine spezielle Vision dieser Stadt, der wird hier wahrscheinlich enttäuscht – ich war es jedenfalls.

   Dieser Zwiespalt ist geblieben und hat dafür gesorgt, dass mein Urteil so ausfällt. Ein Teil ist ziemlich gelungen, ein anderer eher nicht. Ein rundes, überzeugendes Ganzes ist dabei nicht herausgekommen. (29.7.)