Les Misérables (Die Wütenden) von Ladj Ly. Frankreich, 2019. Damien Bonnard, Alexis Manenti, Djibril Zonga, Issa Perica, Al-Hassan Ly, Steve Tiencheu, Almamy Kanoute, Nizar Ben Fatma

  Keine Neuverfilmung des alten Romans von Victor Hugo, erst recht kein neues Musical, Gott bewahre, sondern eher eine Hommage und eine Art Update, eine Nachempfindung unter modernen Gesichtspunkten. Dass Hugos Themen nichts von ihrer Aktualität verloren haben, dass der Ort Montfermeil einst wie heute Schauplatz einer großen gesellschaftlichen Krise geblieben ist, ist ebenso unzweifelhaft wie traurig, leider aber auch keine Überraschung oder eine ganz neue Erkenntnis.

   Ein Neuer kommt in die lokale Abteilung für Verbrechensbekämpfung, und kriegt gleich den rauen Männerton und den speziellen Korpsgeist ab, der unter den Jungs dort herrscht. Man patrouilliert im Auto durchs Viertel, checkt die einschlägig bekannten Ganoven ab und lässt zwischendurch auch mal bei ein paar Mädels den Macker raushängen. Die Devise ist immer „Die oder wir“ und „Nett sein ist für Loser“, und das ist eigentlich gar nichts für Stéphane, der eher zurückhaltend und deeskalierend agieren möchte, was mit Chris, dem Anführer der Dreiergruppe aber nicht zu machen ist. Chris macht den Neuen mit den Clans vor Ort bekannt, den Arabern, den Afrikanern, den Zigeunern, und wie sie alle gegeneinander arbeiten und nur an ihren eigenen Geschäften interessiert sind. Zwischendrin wimmeln die Jugendlichen, die diese Trenngräben noch nicht kennen, die sich aber was Tonfall und Haltung angeht schon ganz auf die Erwachsenen bezogen haben. Als aus dem Zirkus ein kleiner Löwe geklaut wird, droht echter Stress, denn die Zigeuner schicken ihre Schläger und drohen mit Gewalt, falls das Vieh nicht bald wieder auftaucht. Die drei Polizisten hängen sich an Issa, den mutmaßlichen Dieb und geraten unversehens in eine Eskalation, der sie nicht gewachsen sind. Issa kriegt eine Gummikugel ins Gesicht, Chris will den Vorfall vertuschen, und erst jetzt geht die Situation richtig durch die Decke, denn eine Drohne hat Videoaufnahmen gemacht, und Chris setzt rücksichtslos alles in Bewegung, um  dieser Drohne habhaft zu werden.

   Wuchtig und exemplarisch wird ewig gültige Kreislauf der Gewalt dekliniert, dessen Gesetze und fatale Folgerichtigkeit ein jeder kennt, der aber in vielen Gegenden der Erde nach wie vor das menschliche Miteinander prägt und bestimmt. Gewalt, egal von wem und welchem Grund sie initiiert wird, führt automatisch zu mehr Gewalt undsoweiter. Man kann von Menschen, die in gewaltsamen Umständen leben müssen, nicht erwarten, dass sie ein anderes Repertoire zur Bewältigung ihrer Lebenssituation entwickeln können. Allein die Bilder von den Wohnghettos in dieser Pariser Vorstadt zeugen von Gewalt, schon Städtebau und Architektur können ein Akt der Gewalt sein, zeugen auf jeden Fall von Nichtachtung und Herabwürdigung jener Menschen, die dort leben müssen. Die Atmosphäre ist per se angespannt, gereizt, jederzeit zum Ausbruch bereit, und der kleinste funken genügt, um das Fass zur Explosion zu bringen. Chris‘ Überzeugung, die Situation mit Härte und Autorität kontrollieren zu können, wird zuletzt ad absurdum geführt, wenn der rasende Mob der Jugendlichen das Viertel überrennt, so wie es 2005 in Paris geschah. Drehbuch und Regie machen es sich dabei überhaupt nicht leicht, den Schuldigen auszumachen, denn nicht nur die Staatsmacht agiert gewalttätig, auch die verschiedenen Banden versuchen ihre Interessen ohne Rücksicht durchzusetzen, und letztlich richtet sich die Wut der Jugendlichen auch gegen sie, denn ebenso wie die Polizei haben auch sie dazu beigetragen, das Leben dort in der Banlieue aussichtslos und unerträglich zu machen. Die Kids werden regelrecht erstickt zwischen all diesen feindlichen Gruppen und Einflussnehmern, den Islamisten, den Mafias, den Familienclans. Es wird immer wieder Opfer von Willkür und Maßlosigkeit geben, und die verantwortliche Politik scheint wie immer sehr weit entfernt von diesen Ereignissen zu sein. Dies ist ein starker, mitreißender, zorniger, aber keineswegs blindwütiger Milieufilm, der über die handelnden Menschen hinaus auch den Blick für Strukturen und Zusammenhänge hat, und das zeichnet ihn auf jeden Fall aus. Rasant inszeniert, großartig gespielt, sehr direkt und schnörkellos. Besonders froh bin ich, dass aus dem Land des Wohlfühlfilms auch mal wieder sowas kommen kann, hartes, engagiertes politisches Kino. Viel zu selten sehen wir das, keine Frage, aber ein Film wie „Les Misérables“ ist auf jeden Fall besser als gar keiner. ˜˜˜˜» (28.1.)