Il Traditore von Mario Bellocchio. Italien/Brasilien/BRD, 2019. Pierfrancesco Favino, Maria Fernanda Cándido, Fabrizio Ferracane, Luigi Lo Cascio, Fausto Russo Alesi, Nicola Calì, Giovanni Calcagno

   Der Verräter heißt Tommaso Buscetta, ist Sizilianer, Mafioso, vielfacher Familienvater, mehrfacher Ehemann und ein mehrfach verurteilter Verbrecher. Nach seinem letzten Ausbruch findet er in Palermo als eifriger Soldat wieder in den Schoß der „Familie“ zurück, doch irgendwann wird er des Ganzen plötzlich überdrüssig. Die alten Zeiten, die „guten alten Zeiten“, so wie er es sieht, sind endgültig vorbei, Gier und Mord und Heroin haben das Tagesgeschäft übernommen, nichts und niemand ist mehr heilig, Frauen und Kinder werden ebenso getötet wie alle anderen. Tommaso hat sich mit seiner dritten Ehefrau in deren Heimat Brasilien eine respektable Existenz aufgebaut und zieht sich Anfang der 80er mit einem Teil seiner Kinder dorthin zurück. Zwei erwachsene Söhne kann er nicht mitnehmen, denn sie wollen auf Sizilien bleiben, der Rest der Familie genießt in Rio ein luxuriöses Dasein. Die Mafia demontiert sich derweil daheim in einem blutrünstigen Massaker, dem etliche Männer zum Opfer fallen, unter anderem auch die beiden Söhne Tommasos. Dann wird Tommaso von der brasilianischen Polizei verhaftet, und die belehrt ihn darüber, dass die Brasilianer in Sachen Brutalität und Folter den Mafiosi in nichts nachstehen. Ein Suizidversuch mit Strychnin schlägt fehl, Tommaso wird nach Italien ausgeliefert, wo er sich dazu entschließt, zu kooperieren. Er gerät an den berühmten Richter Giovanni Falcone und beginnt gegen Mitte der 80er, über seine Tätigkeit für die Cosa Nostra ausführlich Rechenschaft abzulegen. Eine langjährige Serie von Prozessen und Verurteilungen ist die Folge, doch sieht sich unser Tommaso bis zuletzt als ein wahrer Ehrenmann und Mafiosi. Seinen Seelenfrieden findet er dennoch nie so ganz – auch im Exil in Florida schläft er als alter Mann nie unbewaffnet, wenn er überhaupt mal schläft…

   Eine merkwürdige Paradoxie, die sich durch den ganzen Film zieht und die Basis für seinen zutiefst ironischen Grundton bildet. Ob es Einfältigkeit ist, Naivität oder Verblendung, Tommaso Buscetta stimmt tatsächlich das Lied von den guten alten Zeiten an, wo die Männer der Cosa Nostra noch Ehre am Leib hatten und sich nicht an Frauen oder Kindern vergriffen und auch keine miesen Geschäfte mit Heroin machten oder sowas. Zwar macht ihn Falcone mehr als einmal deutlich darauf aufmerksam, dass man in diesem Zusammenhang kaum von guten alten Zeiten reden kann, doch hält Buscetta, womöglich auch aus eher instinktivem als reflektiertem Selbstschutz an dem Mythos vom Ehrenmann fest, den er sogar noch im Gerichtssaal proklamiert, wenn er die angeklagten Kollegen als wahre Verräter an der Sache der Cosa Nostra bezeichnet und sich hingegen als einen Retter darstellt. Die blanken Fakten stützen das wirre Konstrukt keineswegs, Tommaso ist bei Licht besehen nicht mehr als ein gewöhnlicher Mobster und Mörder, doch mag seine bizarre Selbstwahrnehmung durchaus auf einer Linie mit der damals üblichen Moral liegen, von der uns Mario Bellocchio in seinem zweieinhalbstündigen Drama mehrere Kostproben serviert. In Tommaso Buscetta treffen sich einige der kennzeichnenden, diametral entgegengesetzten Züge der klassischen „Gangsters“: Das weltmännische, aufgeplusterte Auftreten einerseits und die Sehnsucht nach ganz normal bürgerlichen Lebenswelten mit Haus und Familie andererseits. Die Betonung von familiärer Treue und dem herrschenden Ehrenkodex der Cosa Nostra einerseits und das wilde und rücksichtslose Morden und Blutvergießen andererseits. Das von Leuten wie Totò Riinia initiierte endlose Töten gegnerischer Clanmitglieder stößt ihn ab, doch seine eigenen Verbrechen ordnet er offenbar einer anderen Kategorie zu. Diese Art von Selbstbetrug hat etwas Komisches und fast Groteskes, und irgendwo in diesem Feld finden sich viele Szenen des Films wieder. Vor allem die Gerichtsverhandlungen mutieren zu einem völlig unkontrolliert tumultösen, wüsten Affentheater, das rein gar nichts mit meinen Vorstellungen einer „ordentlichen“ juristischen Prozedur zu tun hat und selbst den amerikanischen Geschworenenprozess á la Hollywood weit in den Schatten stellt. Falls Bellocchios Darstellung hier auch nur halbwegs der damaligen Gepflogenheit entspricht, haben die Italiener ihre Liebe zur großen Oper jedenfalls zu einhundert Prozent auch in die Gerichtssäle transportiert…

 

   Bellocchio ist hier augenscheinlich nicht an der Schaffung einer Identifikations- oder gar Sympathiefigur gelegen. Die von ihm offen zur Schau gestellte Distanz hindert mich daran, stärker emotional Anteil zu nehmen, aber dies ist angesichts der vorwiegend hässlichen Vorgänge durchaus angemessen, wie ich finde. Hier wird kein großes Epos im Sinne Scorseses oder Coppolas zelebriert, auch kein knackiger Mafiafilm im Stile Damianis oder Petris, hier wird eine durch und durch marode, kranke, degenerierte Gesellschaft kühl und ziemlich unsentimental unter die Lupe genommen, und zugleich ein reichlich krasses Stück neuerer italienischer Geschichte ausgebreitet, und die liebe Politik in Gestalt Giulio Andreottis grätscht auch noch von der Seite rein. Ein alles in allem ziemlich böser und sperriger Politfilm, der gut zu den italienischen Serien passt, die ich zurzeit schaue, und der im Original auch sehr interessant war, denn was die Sizilianer da sprechen, hat für meine ungeübten Ohren rein gar nix mit Italienisch zu tun – und im Film beschweren sich sogar die Leute im Gerichtsaal und motzen die Mafiosi an, sie mögen doch bitte aufhören, in ihrer total unverständlichen Sprache zu schwadronieren…˜˜˜˜ (18.8.)