Sorry we missed you von Ken Loach. England/Frankreich, 2019. Kris Hitchen, Debbie Honeywood, Rhys Stone, Katie Proctor, Ross Brewster, Charlie Richmond, Sheila Dunkerley

  Familie Turner ist eines der vielen Opfer des großen Bankcrashs von 2008. Sie verlor viel Geld, die Perspektive auf ein Eigenheim und rackert sich seitdem Tag für Tag ab, um wenigstens die kleine Mietwohnung und die schmale Existenz zu sichern. Seb und Liza Jane gehen zur Schule, Abbie schuftet als ambulante Pflegeschwester, und Ricky kriegt scheinbar eine große Chance, als er als „selbständiger“ Fahrer bei einem Paketdienst anheuert. Um die Anzahlung für einen eigenen Transporter leisten zu können, muss Abbie ihr Auto abgeben und verkaufen, sodass sie fortan ihre weiten Strecken von Klient zu Klient per Bus zurücklegen muss. Ricky gerät seinerseits in eine Tretmühle aus gnadenlosem Zeitdruck und ständiger Drohung, und an dem wachsenden Stress der Eltern zerbricht die Familie beinahe. Der halbwüchsige Seb gerät aus der Bahn, schwänzt die Schule, treibt sich mit anderen Graffitikids in der Stadt herum, klaut Sprühfarbe und begegnet den hilflosen Vorwürfen der völlig übernächtigten Eltern mit wachsender Verachtung und Aggression, und nur die jüngere Liza bemüht sich, die Familie irgendwie zusammenzuhalten und führt dabei unfreiwillig beinahe eine Katastrophe herbei. Die zweite passiert dann wirklich, als Ricky von drei Kriminellen überfallen und zusammengeschlagen wird. Sein Boss macht ihm klar, dass auch in diesem Fall keine Ausnahmen gemacht werden und jeder Ausfalltag ihn mehrere hundert Pfund kosten wird. Und obwohl ihn Abbie und Seb verzweifelt daran zu hindern versuchen, setzt er sich tags darauf wieder hinters Steuer, obwohl er aus einem Auge kaum gucken kann.

   Stumm, bedrückt, betroffen schleichen wir raus auf die Straße – so düster und hoffnungslos endete schon lange kein Ken-Loach -Film mehr. Die meisten zeichnen sich ja gerade dadurch aus, dass bei aller Tristesse und niederdrückender Last immer noch ein Rest Aussicht bleibt. Diesmal ist das nicht so, und obwohl das natürlich innerhalb dieser Geschichte vollkommen folgerichtig und realistisch erscheint, fehlt dieser typischer Ken-Loach-Touch am Ende ein wenig. Naive Sozialromantik kann ihm diesmal wenigstens niemand zum Vorwurf machen! Davon abgesehen ist und bleibt good old Ken auch mit bald Mitte achtzig die eine, die wichtige, die unverzichtbare Kinokonstante, die meinem Mitstreiter und mir wieder und wieder den Glauben an das Medium zurückgibt, für den Fall, dass er uns zwischendrin mal ein bisschen abhandengekommen sein könnte. Essentielleres, humaneres, bewegenderes und stärkeres Kino gibt es für mich nicht, ganz einfach. Das ewige Strampeln der kleinen Leute in einem System der Kälte und Unbarmherzigkeit, das Anrennen gegen unmenschliche Strukturen, in denen rücksichtslose Geschäftspolitik und schlimmster Brutalkapitalismus die Herrschaft an sich gerissen haben, der Kampf um den letzten Rest Würde, Unabhängigkeit, Integrität. Wer das naiv nennt, verschließt seine Augen vor dem, was seit Jahrzehnten da draußen los ist, was vor allem auch mit uns selbst los ist, denn wie oft fragen wir uns selbst, ob der wachsende Stress all das wert ist, oder ob wir nicht nach Wegen suchen sollten, unser Leben unter anderen Vorzeichen zu leben. Aber das ist schon eine Luxusfrage, wenn man auf die Helden bei Ken Loach schaut, denn die haben es mit absolut existentiellen Herausforderungen zu tun, die haben gar keine andere Wahl, als sich Jahr für Jahr bis an die letzte Grenze zu verausgaben. Selten hat ein Film den rudimentären Existenzkampf einer Familie eindringlicher geschildert als dieser hier, und wir sitzen mit geballten Fäusten im Saal und schauen zu, wie die Turners scheinbar unaufhaltsam in Richtung Abgrund treiben und ihnen dennoch ein starker innerer Zusammenhalt bleibt, der sie vielleicht retten wird, obwohl das Bild des zerschundenen, hilflos halb blind umherrasenden Ricky diese Rettung stark in Frage stellt.

   Loach inszeniert wie immer ganz einfach, gradlinig mit fast dokumentarischem Gestus, stützt sich auch wie immer auf grandiose Schauspieler, die ihre Figuren so authentisch verkörpern, als hätten sie das, was ihnen geschieht, auch selbst durchlebt. Loach bringt seine rückhaltlose Solidarität mit den Turners dieser Welt in jeder Szene vor Augen, er verschweigt auch ihre Krisen und Irrtümer und Schwächen nicht und er scheut sich vor allem nicht, dezidiert politisch Stellung zu beziehen, Gott sei Dank, kann ich nur sagen, denn wie viele Filmemacher trauen sich das heute noch zu. Mir ist durchaus klar, dass Loach schon biologisch bedingt irgendwann am Ende des Weges angekommen sein wird, doch hoffe ich gleichzeitig, dass er uns bis dahin noch eins, zwei Filme dieser Güte schenken wird. Fraglos wird dies eines der Jahreshighlights bleiben. ˜˜˜˜˜ (12.2.)