Les innocentes (Agnus Dei – Die Unschuldigen) von Anne Fontaine. Frankreich/Polen, 2016. Lou de Laâge, Agata Buzek, Agata Kulesza, Vincent Macaigne, Joanna Kulig, Eliza Rycembel, Katarzyna Dabrowska

   Eine wahre Geschichte: Kurz nach Kriegsende wird ein Benediktinerinnenkloster in der Nähe Warschaus von russischen Soldaten überfallen, die Frauen werden vergewaltigt, viele werden schwanger. Mathilde, eine angehende junge Ärztin, die für das französische Rote Kreuz arbeitet, wird eher zufällig zu Hilfe gerufen und sieht sich fortan einer komplizierten und konfliktreichen Situation ausgesetzt. Ihr eigener Vorgesetzter erwartet, dass sie sich ausschließlich um die eigenen Leute kümmert, die aus deutscher Kriegsgefangenschaft befreit wurden und nun auf die Rückkehr nach Hause warten, sie selbst sieht sich an ihren Eid als Ärztin gebunden und will den schwangeren Frauen im Kloster helfen, diese wiederum wollen sich einerseits von außen abschotten, andererseits benötigen sie aber dringend medizinische Unterstützung, weil sie sonst mit der Vielzahl der Schwangerschaften nicht fertig werden können. Vor allem die Oberin, die selbst ein Kind erwartet, befindet sich in einem tiefen Zwiespalt – sie geht sogar soweit, ein Neugeborenes im kalten Winter auszusetzen, doch letztlich sorgt Mathildes beharrliches Eingreifen dafür, dass die meisten Babys gesund zur Welt kommen, bevor sie zurück nach Frankreich geht.

   Gewalt und Verwüstung gegen Glaube und Hoffnung – und dann noch alles dazwischen. Eine recht komplexe Gemengelage, in der sich Mathilde befindet. Halberlei schon ein wenig abgestumpft vom blutigen Alltag im Lazarett des Roten Kreuzes, zwischendurch zur Zerstreuung mal rasch etwas Sex mit dem nervigen Kollegen, doch ansonsten scheint sie vor allem darauf bedacht, sich ihre Mitmenschen innerlich vom Leibe zu halten. Das insistierende Flehen und Drängen der jungen Ordensschwester, die sie eines Nachts um Hilfe aufsucht, ist eine neue Erfahrung und bringt sie per se in Bedrängnis. Den Impuls, abzulehnen und sich rauszuhalten überwindet sie, und im Kloster übernehmen ihre Instinkte als zukünftige Ärztin die Regie. Nun ist sie es, die darauf beharrt, dass die vielen schwangeren Nonnen medizinische Hilfe benötigen, während die Oberin und andere mit allen Mitteln versuchen, die prekäre und vor allem in ihren Augen zutiefst beschämende und entwürdigende Situation zu verheimlichen. Mathilde bleibt dran, erst recht, als sie selbst um ein Haar Opfer gewalttätiger Übergriffe seitens russischer Soldaten wird, die die Hilflosigkeit, Angst und Demütigung am eigenen Leibe spürt. Zwischen ihr und einigen der jüngeren Schwestern entsteht ein gewisses Gefühl der Solidarität, ein Band, das die ältere Oberin um keinen Preis zulassen möchte. Ihr Vorgesetzter will sie wieder und wieder an ihre vermeintlichen Pflichten erinnern, sie hat sich aber längst entschieden, dass ihre wahre Pflicht darin liegt, die Frauen im Kloster in ihrer Not zu unterstützen, wobei sie im Laufe dieser Tätigkeit tatsächlich auch für sich selbst wieder mehr Sinn und Zukunft findet, nachdem all dies im Chaos des ausgehenden Krieges verloren gegangen zu sein schien.

 

   Ein sehr beachtlicher Film von Anne Fontaine, die bislang eine ziemlich launische und unstete Werkschau vorweisen kann, und von der ich selbst bislang noch keinen so konzentrierten und inszenatorisch so überzeugenden und konsequenten Film gehen habe. Sowohl die düstere Atmosphäre eines halbwegs zerstörten Landes nach dem Krieg als auch die menschlichen Begegnungen zwischen Erschöpfung, Misstrauen und Furcht werden mit viel Gefühl und Raum für Zwischentöne geschildert. Wohlfeile moralische Urteile und Dogmen sind schon lange nichts mehr wert in der Welt von 1945, es geht zuallererst ums Überleben, aber dann auch darum, einen letzten Rest menschlicher Würde entweder zu wahren und zu verteidigen, oder für sich wieder zu entdecken. Die tiefe seelische Erschütterung der mehrfach vergewaltigten und misshandelten Nonnen ist ständig präsent und in den Gesichtern spürbar, genauso wie der krasse innere Kampf der Oberin, die einerseits mit allen Mitteln an ihren alten Werten und Glaubensvorstellungen festhalten will, und selbst in sich ein Zeugnis jener neuen Welt trägt, die nun in die alte eingebrochen ist und deren Spuren sich nicht mehr tilgen lassen. Darstellerisch erstklassig, inszenatorisch sehr reif und überzeugend, keine leichte Kost, dafür ein Film, der noch ein bisschen bleibt. (TV, 28.2.)