Ammonite von Frances Lee. England, 2021. Kate Winslet, Saoirse Ronan, Gemma Jones, Fiona Shaw, Alec Secăreanu, James McArdle
Mary lebt mit ihrer alten Mutter in Lyme Regis. Sie sucht Versteinerungen unten an der Küste, hat schon einige spektakuläre Funde auf ihrem Konto und sich mittlerweile unter den Paläontologen im fernen London einen gewissen Namen gemacht, was aber nichts daran ändert, dass die hochnäsigen Herren weiterhin ihren eigenen Namen unter die Ausstellungsstücke setzen und eine Frau nicht in ihre elitären Kreise hereinlassen. Was wiederum dazu führt, dass Mary davon lebt, ihre Funde möglichst lukrativ zu verkaufen und sich damit abfinden zu müssen, wertloses, banales Zeug für Touristen herzustellen. Einer dieser Herren aus London kommt eines Tages in Begleitung seiner jungen Frau zu ihr, dient sich ihr für einige Zeit als „Lehrling“ an und zieht dann gen Osten, nicht ohne seine Charlotte zurückzulassen, denn er hat keine Lust, sich um die kränkelnde, bleiche Gattin zu kümmern und beauftragt die zunächst äußerst widerstrebende Mary damit, die sich auch nur darauf einlässt, weil Mr. Murchison ordentlich Geld springen lässt. Die beiden Damen, die aus denkbar unterschiedlichen Welten stammen, finden zunächst überhaupt nicht zusammen, doch als Charlotte ernsthaft erkrankt, nimmt Mary ihre Verantwortung sehr ernst, pflegt sie gesund, und langsam aber sicher entsteht zwischen den beiden eine Nähe, aus der schließlich Liebe wird. Als Mr. Murchison zurückkommt und Charlotte mit nach London nimmt, scheint die Romanze beendet zu sein, doch Charlotte bittet Mary zu sich nach London, wo sie schon ganz konkrete Pläne für eine gemeinsame Zukunft gemacht hat. Mary fühlt sich überfahren und bevormundet, reagiert brüsk und abwehrend, doch als sich beiden schlussendlich im British Museum gegenüberstehen, nur von einem Exponat im Glaskasten getrennt, da sieht es so aus, als könnten sie vielleicht doch zueinander finden.
Ein ganz wunderbarer, völlig aus der Zeit gefallener Film, eine spröde viktorianische Romanze und auch eine wirklich schöne Liebesgeschichte. Frances Lee inszeniert brillant, wortkarg, lakonisch, doch mit äußerst feinfühligem Blick für Gesichter, Blicke. Körperhaltungen und Stimmungen. Dies ist kein gefälliger, beschwingter Jane-Austen-Kostümfilm fürs Arthauspublikum, dies sind zwei karge Stunden in karger Landschaft bei kargem Wetter, doch die Intensität der Erzählung und natürlich die Klasse der beiden grandiosen Hauptdarstellerinnen machen die zwei Stunden zu einem ziemlich faszinierenden Erlebnis, das man so im Kino auch nicht häufig geboten kriegt. Lee streift viele Themen fast beiläufig, integriert sie in das Gesamtbild, malt so den Hintergrund knapp aber gründlich aus, doch im Fokus stehen die Geschichte Marys (die es tatsächlich gegeben hat) und die Annäherung zweier so unterschiedlicher Frauen unter solch schwierigen Bedingungen. Ein tragische, von unzähligen Verlusten gezeichnete Familiengeschichte spielt dabei ebenso eine Rolle, wie eine offenbar gescheiterte Liebesbeziehung zu einer anderen Frau aus dem Ort, die miterleben muss, wie die junge Charlotte das fertigbringt, was ihr nicht gelang, nämlich die dicke Mauer, die Mary um sich herum errichtet hat, brüchig werden zu lassen und schließlich wenigstens hier und da durchlässig zu machen. Wenn sich die tiefernsten, verbitterten, verhärteten Gesichtszüge Marys wenigstens hier und da mal ein wenig aufhellen und erweichen, erleben wir das geradezu als Offenbarung und spüren, dass ihre Gefühle für Charlotte tatsächlich die raue Fassade durchdrungen haben. Wie Kate Winslet das spielt, ist schon ein Ereignis für sich. Oft sehen wir, sie sie regelrecht mit sich kämpft, ob sie dieses Neue zulassen, sich aus ihrer Isolation herauslocken lassen will, und bis zuletzt ist klar, dass dieser Kampf noch nicht entschieden ist, denn auch der offene, lange Blick, den die beiden austauschen, kann alles Mögliche bedeuten.
Manchmal transportiert mich ein Film für zwei Stunden total raus aus dem Alltag, und wenn er das nicht nur mit Mitteln des Popcorn-Unterhaltungskinos tut, ist es mir besonders lieb und teuer. „Ammonite“ hat alles Zeug zu einem Klassiker, wem das etwas bedeutet, und ist auf jeden Fall einer der schönsten Filme, die ich in diesem Jahr gesehen habe. (6.11.)