Dylda (Bohnenstange) von Kantemir Balagov. Russland, 2019. Viktoria Miroshnichenko, Vasilisa Pereglgyna, Andrey Bykov, Igor Shorokov, Konstantin Balakirev, Ksenia Kutepova

   Leningrad 1945 ist eine nach fast zweieinhalbjähriger Belagerung und über einer Million Hungertoten ausgeblutete Stadt. Das monströse Kriegsverbrechen der Deutschen hat die Überlebenden in der Stadt gezeichnet, ebenso wie der soeben beendete „Große Vaterländische Krieg“, unter dem kein Land so gelitten hat wie Russland (vom Stalin-Terror im eigenen Land ganz zu schwiegen…). Viele Kämpfer und Kämpferinnen sind heimgekehrt, füllen die Krankenhäuser und die Straßen, werden sofort an den Rand der Gesellschaft gedrängt wie alle Veteranen in anderen Ländern auch, in riesigen Mietskasernen hausen die Leute auf engstem Raum, und wenn die Wohlhabenden ab und zu in die Niederungen herabsteigen, großzügig Präsente verteilen und den „Helden“ applaudieren, so ändert das nichts daran, dass es Machteliten gibt und weit weg das ausgezehrte, traumatisierte, hungernde Volk. Davon erzählt dieser Film auch, im Zentrum, aber stehen Ija und Mascha, zwei Soldatinnen, die sich irgendwann irgendwo im Krieg kennengelernt haben. Ija arbeitet nun als Krankenschwester, ist schwer traumatisiert, erleidet immer wieder anfallsartige Absencen, und einer davon fällt eines Tages Maschas kleiner Sohn zum Opfer, den Ija bei sich hat, weil die Freundin noch in Berlin ist, und der von ihrem Körper einfach erstickt wird, als sie hilflos vornüber auf ihn sackt. Sie kann der heimgekehrten Mascha die Wahrheit nicht erzählen, doch weil Mascha selbst keine Kinder mehr bekommen kann, schläft sie mit einem Arzt, um schwanger zu werden und für Mascha ein Kind auszutragen. Das wird nicht funktionieren, und auch die sonstigen Versuche der beiden jungen Frauen, irgendwie wieder zurück ins Leben zu finden, scheinen nicht sehr erfolgreich. Immerhin haben sie sich…

   Erschütternd, todtraurig, grausam, und doch auch menschlich und schön, dieser Film ist vieles auf einmal, auf keinen Fall aber würde ich diese hundertdreißig Minuten als gut verdauliche Filmkost bezeichnen. Nachkriegsfilme aus Russland haben mir schon lange gefehlt, überhaupt Filme, die jenseits der früheren UDSSR-Propaganda vom Krieg und den Menschen berichten. Einige wenige Ausnahmewerke von Tarkowski und Klimov sind mir in Erinnerung, ein paar dubiosere Filme von Michalkov auch, ansonsten Fehlanzeige, und wahrscheinlich liegt das daran, dass russische Filme seit vielen Jahren hierzulande so gut wie nicht mehr gezeigt werden, denn ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass dieses verheerende Ereignis nicht vielfach im Kino aufgearbeitet wurde.

   Kantemir Balagov muss den Horror gar abbilden, er muss uns nur in die Gesichter der Überlebenden blicken lassen, um uns ein Gefühl dafür zu geben, was sie durchgemacht haben mögen, obwohl man sich das vermutlich niemals richtig vorstellen könnte. Mascha gabelt einen jungen Kerl auf, der bringt sie stolz nach Hause in die noble Familienvilla, und dort tischt sie der grässlichen Mutter mit unbewegter Miene ein paar Geschichten vom Grauen des Krieges auf und davon, was sie als Frau tun musste, um zu überleben, und selbst wenn nicht ganz klar ist, ob sie all dies wirklich erlebt hat oder die Alte in ihrer schicken Apparatschik-Villa nur vor den Kopf stoßen will, glaubt man doch jederzeit, dass viele andere Ähnliches durchgemacht haben. Mascha ist abwechselnd hart, unzugänglich und wütend, Ija oft eher apathisch, schlafwandelt durch ihren Tag, nur gelegentlich bricht es aus ihr raus, als zum Beispiel der aufdringliche Sascha sich an die Freundin ranmacht und dafür von ihr ordentlich Dresche kriegt. Mascha will weitermachen, will eine Familie, ein Kind, alles zurückhaben, was sie an den Krieg verlor, nur ist diese verzweifelte Lebensgier ebenso wenig alltagstauglich wie die rohe Vergnügungssucht der Jungs. Es wird noch viele Jahre dauern. Die beiden Frauen liegen sich am Schluss in den Armen, eine Geste der Freundschaft, Liebe, Menschlichkeit ebenso wie der Verzweiflung, und all dies wird sie noch lange begleiten und vielleicht nie loslassen. Viele der Bilder hier werden lange nachwirken, das stechende Grün von Kleidern und Wandfarben, die hohlen, leeren Augen Ijas, das zähe Ringen ums Weiterleben aller Einwohner, zugleich auch die entrückte, herablassende Haltung der Wohlhabenden draußen vor den Toren der Stadt. Ich wäre wirklich heilfroh, wenn ich endlich mehr russische Filme über den Krieg sehen könnte, da ich aber in unsere Verleiher keinerlei Hoffnung mehr setzen kann, muss ich wohl darauf warten, dass mal wieder ein Film ein paar internationale Preise abräumt und dann vielleicht doch auf DVD erscheint. Ich bin ja selbst schuld – wieso bin ich kein Marvel-Fan, dann hätte ich solche Schwierigkeiten nicht… (Disc, 14.05.)