Druk (Der Rausch) von Thomas Vinterberg. Dänemark/Schweden/Niederlande, 2020. Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larsen, Magnus Millang, Lars Ranthe, Maria Bonnevie, Helene Reingaard Neumann, Susse Wold

   In seinen besten Filmen (die großartige Literaturverfilmung „Am grünen Rand der Welt“ lasse ich mal außen vor) hat sich Thomas Vinterberg als wahrer Meister des Unbehaglichen erwiesen, als ein Filmemacher, der private Psychostudien höchst überzeugend mit Gruppen- bzw. Gesellschaftsporträts verknüpfen kann. So geschehen in seinen fulminanten Dramen „das Fest“ oder „Die Jagd“ und in etwas anderer Weise auch in “Die Kommune“. Sein neuer Film „Der Rausch“ riskiert nun eine noch viel heiklere Balance – es wird viel gelacht während der Vorführung, doch das erwähnte Unbehagen ist immer mit dabei, und gerade in unserem Lachen liegt schon ein Teil des Problems oder auch des Befundes. Warum sind angeschickerte, lallende oder strauchelnde Politiker auf der internationalen Bühne komisch? Was ist witzig an einer Gruppe total betrunkener Mittvierziger oder an mit Wodka gefüllten Wasserflaschen, die während des Schulunterrichts geleert werden? Viele im Publikum haben gelacht, ich auch, doch hat Vinterberg es geschafft, dass ich mich fast schon während des Lachens fragte, wieso ich so reagiere. Dieser Effekt, das sprichwörtliche „Im Halse stecken bleiben“, wird hier ganz bewusst und kalkuliert eingesetzt, konfrontiert mich selbst mit seinen widersprüchlichen Ansichten und dringt direkt zum Kern der Sache vor. Das ist ebenso provozierend wie stark in der Umsetzung, alles in allem ein ganz toller Film.

   Vier befreundete Schullehrer stecken mitten drin in der Männerkrise irgendwann ab Vierzig. Das Leben läuft so vor sich hin, beruflich wie privat hat sich eine gewisse öde Routine eingestellt, besondere Höhen oder Tiefen sind nicht zu verzeichnen, und in dieser Gleichförmigkeit liegt eine total lähmende Tristesse. Martin ist einer der vier, der diese Lähmung an sich spürt, oder eben zunächst nicht spürt, bis er von seinen Schülern aufgerüttelt wird, die ihm vorwerfen, sie nicht vernünftig auf die anstehenden Prüfungen vorzubereiten und ihn am liebsten ausgetauscht haben möchten. Einer seiner Kollegen bringt den norwegischen Psychologen Skårderud ins Spiel, (den gibt’s tatsächlich!) der die Behauptung aufgestellt hat, dass der Mensch erst mit einem konstanten Blutalkoholspiegel von 0,5 Promille seine Leistungsfähigkeit voll abrufen könne. Die vier Kollegen sind entschlossen, ihrem Leben den längst überfälligen Kick zu verpassen, also stellen sie ein paar Regeln auf (Trinken nur tagsüber und wochentags, nie nach 20h, so wie Meister Hemingway) und machen sich ans Werk. Der Effekt ist so verblüffend und in allen Bereichen positiv, dass Martin bald die nächste Stufe zündet, nämlich den Pegel zu erhöhen, weil, so glaubt er, da noch mehr drin sei. Erwartungsgemäß gerät das Experiment damit außer Kontrolle, das Trinken nimmt überhand, und was bis dahin noch wie eine unerwartete Rückkehr zu altem Esprit rüberkam, mündet nun in peinlichen Szenen, Streit und Entfremdung. Das Verhalten der vier Lehrer wird nun auffällig, Martin verliert seine Familie, Tommy verliert gar sein Leben, stürzt sich vom Boot in die Ostsee, und erst sein Tod scheint zu bewirken, dass die anderen die Reißleine ziehen und den Versuch abbrechen. Am Schluss aber, gerade als Martin seine Ehe doch vielleicht nochmal retten kann, feiern die Abiturienten ihren Abschluss, und die drei Lehrer feiern kräftig mit.

   Ohne die Vorgeschichte wäre dieser Ausklang nicht weiter verdächtig, doch mit dem was wir wissen, können wir wohl nicht anders als uns höchst unbehaglich zu fühlen. Dabei sind feiernde, angeheiterte, fröhliche Leute gesellschaftlich absolut willkommen, unsere Partykultur setzt sie sozusagen schon voraus, wie hier auch mehrfach festgestellt wird. Die Gelage der vier Lehrer sind fast harmlos im Vergleich zu den Exzessen der Kids, die die Saufspiele der Eltern übernommen und nochmals gesteigert haben und deren regulärer Konsum erschreckende Dimensionen angenommen hat. Als Martin einen Schüler auffordert, vor der ganzen Klasse mal zusammenzurechnen, wieviel er in der Woche trinkt, erntet dieser anerkennendes Gelächter ringsum, und seiner Miene ist ein gewisser Stolz anzusehen. Natürlich sind die Strukturen tief verwurzelt: Martin Frau sagt einmal voller Bitterkeit, dass in diesem Land ständig alle trinken, aber das gilt ja nicht nur für Skandinavien. Alkohol gehört immer dazu, Spaß haben, sich amüsieren, mal einen draufmachen, sich mal so richtig loszulassen, all dies scheint ohne Alkohol undenkbar zu sein. Gruppenrituale, Männerrituale, Jugendrituale haben fast immer mit Alkohol zu tun, der sehr viele verschiedene Funktionen erfüllt. Bestandteil der jeweiligen Kultur, Wirtschaftsfaktor, Genussmittel, Rauschmittel. Vieles davon bekommen wir hier zu sehen, und zwar so, dass die Balance immer zu kippen droht, dass die vermeintlichen leichteren Momente immer dieses angesprochene Unbehagen in sich tragen. Die absurde These Skårderuds scheint zunächst auf wundersame Weise zu funktionieren, die vier Männer haben plötzlich all das wieder, was ihnen über die Jahre abhandengekommen war, und sie fühlen sich selbst wieder fit, leistungsstark, geistreich, sexy. Die Schüler sind begeistert, das Eheleben kriegt einen Boost, und alles könnte gut sein, wenn der Mensch nicht den unheilvollen Hang hätte, immer noch mehr zu wollen. Aber auch ohne die Eskalation, die dann alles ins Rutschen bringt, muss man sich ja fragen, was das für ein Befund ist, dass man nur dann wirklich gut ist, wenn man einen gewissen Alkoholspiegel hat, und ob man diesen Gedanken tatsächlich mal zu Ende denken sollte, ob man tatsächlich die Kontrolle über seinen Alkoholkonsum behalten, d.h. ihn im vorgesehenen Rahmen halten kann. Vinterberg schildert zunächst die Effekte und Erfolge ausgesprochen verführerisch: Plötzlich geht alles leichter, lockerer, die langjährige Paralyse, die zunehmende Einsamkeit, die Sprach- und Gefühllosigkeit scheinen überwunden, man ist wieder voller Ideen, Energie und Tatendrang und man hat allgemein wieder richtig Spaß am Leben. Der ideale Weg für Männer aus der unvermeidlichen Midlife Crisis, sollte man meinen. Vinterberg unternimmt nichts, um diesen Effekt irgendwie zu relativieren oder gar zu kommentieren, und darin liegt eine der vielen Stärken seines Films. Er konfrontiert uns, fordert uns heraus, und dies ist ein Thema, zu dem fast jeder der Zuschauer eine Meinung hat, jeder hat verschiedentlich Erfahrungen gemacht, fast jeder denke ich findet sich in dem einen oder anderen Moment wieder. Genauso intensiv wird dann der Absturz vorgeführt, das Entgleisen, der Kontrollverlust, der natürlich mehr oder weniger dramatisch verläuft. Was zuvor gesellschaftlich anerkannt und sogar belobigt wurde (weil die Ursache für die Veränderung nicht bekannt war), mit nun mit Ächtung und Strafe belegt. Wo liegt die kritische Grenze? Wann ist Trunkenheit akzeptabel oder sogar erwünscht und wann nicht? Vinterberg moralisiert nicht, er bringt mich nur dazu, mir diese Fragen zu stellen und mir klarzumachen, wie unglaublich kompliziert und zwiespältig die Situation bzw. unser Verhältnis zum Alkohol eigentlich ist. Ein unheimlich spannender, im besten Sinne des Wortes anregender Film.

 

   Schauspielerisch ist er wie gewohnt überragend (und zwar nicht nur Mikkelsen, sondern das gesamte Ensemble), in allem total realistisch und im Alltag verankert, und gerade weil die ganze Situation so alltäglich und für jedermann erkennbar ist, kann der Film seine Wirkung voll entfalten. Ein erhobener Zeigefinger macht es mir immer leicht, mich abzugrenzen, mich zu distanzieren, und indem Vinterberg genau diesen Fehler nicht macht, setzt er mich meinem eigenen Unbehagen voll aus, und das ist schon große Kunst. ˜˜˜˜˜ (11.8.)