The white tiger (Der weiße Tiger) von Ramin Bahrani. USA, 2020. Adarsh Gourav, Rajkummar Rao, Priyanka Chopra, Mahesh Manjrekar, Vijay Maurya, Kamlesh Gill, Swaroop Sampat, Vedant Sinha

   Balram hat‘s geschafft – Aufstieg zum erfolgreichen Unternehmer, Leiter eines florierenden Taxiunternehmens in der Megacity von Delhi, und was zunächst eine ganz normale Success Story des modernen Turbokapitalismus zu sein scheint, entpuppt sich bei ausführlicherer Betrachtung als waschechtes Wunder, denn dieser Balram stammt aus ärmsten Verhältnissen, einem kleinen Dorf irgendwo im Nirgendwo, er ist Angehöriger der allerniedersten Kaste im Lande, und nichts, aber auch gar nichts hätte auf eine derart märchenhafte Geschichte hinweisen können. Genau das ist für ihn der Grund, sie in allen Details zu erzählen, jedenfalls den Details, die seiner Absicht nach von Belang sind. Und das ist auch der Grund für ihn, diese Geschichte nicht primär uns zu erzählen, sondern dem seinerzeit amtierenden chinesischen Premierminister Wen Jiabao, der in Indien zum Staatsbesuch erwartet wird und den er unbedingt treffen möchte, um sich mit ihm über die mögliche Bedeutung seiner Geschichte auszutauschen. Er weiß eines ganz sicher: Die Zeit des weißen Mannes der westlichen Hemisphäre ist endgültig vorüber, die Zukunft gehört dem gelben und dem braunen Mann, nur hat der weiße Mann dies noch nicht erkannt, wohl aber der gelbe und der braune Mann.

   Diese mehrfach im Verlauf des Films deklarierte Tatsache ist kennzeichnend für seinen hinreißend witzigen, bissigen Tonfall, und natürlich spricht Mister Balram eine unserer größten westlichen Urängste an, dass uns nämlich eines schönen Tages just jene, von denen wir jahrzehntelang kräftig profitiert haben, überrennen werden mit schierer Manpower, und tief drinnen fürchten wir vermutlich ihre Rache, die Angst der Reichen im Elfenbeinturm vor der zornigen Masse. Mit Argwohn blicken wir seit längerer Zeit auf Indien, und in die übliche Herablassung mischt sich eine leise Befürchtung, dass es den Indern nämlich doch irgendwann gelingen könnte, ihre gewaltigen Humanressourcen umzumünzen und ein ernsthafter globaler Wettbewerber zu werden. Von den Chinesen ganz zu schwiegen, das Motto von der „gelben Gefahr“ spukt nicht umsonst schon seit Ewigkeiten durch unsere westlichen Köpfe.

   „Der weiße Tiger“ erlaubt sich immer wieder zwischendurch ein paar augenzwinkernde Seitenhiebe in diese Richtung, und das macht viel Spaß, noch mehr Spaß aber macht es, seinem Lebensweg insgesamt zu folgen, obwohl dieser Spaß natürlich einen äußerst grimmigen Unterton hat. Das indische Kastensystem, auf das die Brits vermutlich bis ans Ende ihrer Tage neidisch sein werden, kriegt ordentlich einen mit, und wie Balrami es mit seiner speziellen Art von Bauernschläue gelingt, diese eigentlich festgemauerte Ordnung zu unter- bzw. durchwandern und wider alle Wahrscheinlichkeit doch ganz nach oben zu kommen, ist natürlich die Hauptattraktion der Erzählung, die komisch und grausam zugleich ist, absurd, tragisch, grotesk. Gewalt und Korruption sind mit im Spiel, Demütigung und Heuchelei, kurz, alles was menschliches Miteinander auf gesellschaftlicher Ebene so liebenswert macht. Die Folgen beständigen Machtmissbrauchs, beständiger Ausbeutung hat Balrami in seinem Dorf von klein auf erlebt, den Zusammenhang von Unterwerfung und Unterwürfigkeit quasi mit der Muttermilch aufgesogen, und doch wird sein Fortkommen von einer eigenartigen, abwechselnd bedrohlichen und faszinierenden Unbeirrbarkeit geleitet, die sich die Gesetze der indischen Gesellschaft zunutze macht, ohne sie jemals bewusst in Frage zu stellen, und die letztlich von diesen Gesetzen auf abstruse Weise profitziert, obwohl sie absolut nicht dafür gemacht sind.

   Dies ist kein Bollywood-Stoff und natürlich auch kein Bollywood-Film, doch wird auch schärfste Gesellschaftskritik stets mit einem spezifisch indischen Lächeln verpackt, das sie im Grunde nur noch wirkungsvoller macht. Hinter dem arglos erscheinenden Vortrag Balramis, der seine Biografie mit naiv wirkendem Stolz erzählt, verbirgt sich ein Abgrund, der von den glitzernden Fassaden des neuen Delhi ebenso repräsentiert wird wie von der erschütternden Armut des Lebens in den Dörfern. Diesen Abgrund kennen wir im Westen genauso, er ist ein genauso dunkler Fleck in unserer Zivilisation, und auch unsere glitzernden Fassaden können diesen Fleck nicht retuschieren, im Gegenteil, sie weisen vielmehr noch darauf hin. Warum sollte dies in Indien anders sein…

   Eine stark inszenierte und hervorragend gespielte Tragikomödie und Satire, ein alles in allem sehr eindrucksvoller und sehenswerter Film, der mich einmal mehr wünschen lässt, es gäbe mehr aus diesem tollen Filmland bei uns zu sehen. (Stream, 28.1.)