Doraibu mai kā (Drive my car) von Ryūsuke Hamaguchi. Japan, 2021. Hidetoshi Nishijima, Tōko Miura, Masaki Okada, Reika Kirishima, Sonia Yuan, Yoo-rim Park, Dae-Young Jin
Worum geht es also drei Stunden lang? Um nichts weniger als alles - das Leben an sich, die Liebe, die Trauer, die Schuld und vor allem die große Frage, ob es sich lohnt, weiter zu leben. Wer sich darauf über diese lange Strecke nicht einlassen möchte, sollte den Kinobesuch besser vermeiden. Wer sich aber darauf einlässt, der wird eine faszinierende Zeit haben, jedenfalls gilt das für mich (auch wenn am Schluss der Popo ein wenig schmerzte…).
Herr Kafuku, ein Theaterregisseur, verlieret unerwartet seine Ehefrau Oto durch einen Hirnschlag. Kurz zuvor hatte er entdeckt, dass sie mit anderen Männern schläft, war aber einer Aussprache aus dem Weg gegangen. Zwei Jahre danach inszeniert er auf Einladung in Hiroshima eine multilinguale Version von Tschechows „Onkel Wanja“, ein Stück, das ihn immer sehr beschäftig hat und in dem er schon mehrmals selbst in der Titelrolle aufgetreten war. Beim Autofahren hört er sich eine Aufnahme von Oto an, die das Stück liest und nur die Passagen von Wanja offenlässt. Er will auf keinen Fall selbst spielen, schiebt die Rolle einem jungen Schauspieler zu, der einst sehr für Oto geschwärmt hat und den er offensichtlich herausfordern will. Ihm wird, anfangs gegen seinen Willen, eine junge Fahrerin zugewiesen. Doch auf den langen Fahrten vom Hotel zum Theater und zurück kommen sich die beiden langsam näher und erzählen einander aus ihrer Vergangenheit. Er gibt sich seit zwei Jahren die Schuld am Tod seiner Frau, die er nach seiner Meinung hätte retten können, wenn er der anstehenden Konfrontation nicht aus dem Wege gegangen und unnötig lang mit dem Auto herumgefahren wäre. Sie gibt sich die Schuld am Tod ihrer Mutter, die vor fünf Jahren bei einem Erdrutsch in ihrem Holzhaus starb und sie sie nach ihrer Meinung ebenfalls hätte retten können, wenn sie sich nicht nur selbst in Sicherheit gebracht und von außen zugesehen hätte, wie das Haus unter den Erdmassen begraben wurde. In dieser und anderen Begegnungen und auch in der langsam Form annehmenden Theaterinszenierung findet Kafuku, der unfreiwillig dann doch noch auf die Bühne muss, weil sein Hauptdarsteller wegen fahrlässiger Tötung ins Gefängnis muss, neue Kraft und Inspiration, und auch die junge Fahrerin Watari kann sich ein wenig von der Schwere befreien, und erhält scheinbar zwei wichtige Geschenke. Kafuku schenkt ihr seinen tollen roten Saab, und von der stummen koreanischen Schauspielerin bekommt sie den Hund, mit dem sie sich bei einem abendlichen Besuch auf Anhieb verstanden hat.
Sonyas abschließender Monolog im Wanja enthält die Quintessenz: Es geht immer weiter, Verzagen und Aufgeben sind keine Option, und wenn wir hier im irdischen Leben keine Erfüllung finden, sondern nur arbeiten und arbeiten, so wird uns diese Erfüllung danach zuteilt, und wir werden auf unser irdisches Mühsal mit einem Lächeln zurückblicken. Von dieser Feierlichkeit und diesem Fatalismus ist der Film an sich gottlob ein gutes Stück entfernt, was aber nicht heißt, dass er sich nicht ganz ausführlich mit den Fragen der Existenz, ihrem Sinn und ihren Krisen beschäftigt. Das tut er nämlich durchaus und zwar mit großem Gewinn. Hamaguchi hat diesen Film ganz wunderbar im Stil der großen japanischen Meister inszeniert, eine ausführliche, tiefgründige Meditation über das Leben, zurückhaltend und diskret einerseits, sehr präzise und aufmerksam andererseits. Auf sehr dezente Art poetisch einerseits, mit ruhigem, klarem Blick andererseits. Ich spürte die drei Stunden durchaus, fand mich aber durchgehend so intensiv in die Geschichte hineingezogen, dass ich letztlich kein Problem damit hatte. Die sehr lange Vorgeschichte mit Herrn Kafuku und seiner Oto harmoniert bestens mit dem zweiten Teil in Hiroshima, denn natürlich müssen wir Oto kennenlernen, um seinen Verlust besser verstehen zu können und auch die zwiespältigen Gefühle, mit denen er sich jahrelang herumschlägt. Frau Watari ist deutlich verschlossener und geheimnisvoller für uns, sie gibt nur in kleinen Portionen etwas von sich preis, und in gleichem Maße, indem sich Kafuku annähert, verliert sie auch für uns etwas von ihrer spröden Fremdheit. Immer wieder finden sich hier Menschen, die plötzlich und überraschend Einblick geben in ihr Innerstes, und immer von neuem müssen wir gemeinsam mit Kafuku eine gewisse Irritation überwinden und uns darauf reinlassen. Der junge Schauspieler, der seine Bewunderung für Oto ganz offen zum Ausdruck bringt und fast eine Art Konkurrent wird, der vor allem einige Dinge weiß, die selbst Kafuku nicht wusste. Oder der koreanische Festivalleiter, der dem überraschten Regisseur eines Abends die stumme Schauspielerin als seine Frau vorstellt und damit eine, wie wir noch sehen werden, sehr wichtige Person in die Geschichte einführt. Die Theaterszenen sind meistens toll und zugleich kurios, denn jeder Darsteller spricht in ihrer bzw. seiner Muttersprache, und dennoch scheinen sie alle das babylonische Gewirr durch schiere Chemie spielend zu überwinden. Auch das Publikum am Ende wird damit konfrontiert und muss auf einer großen Leinwand die passenden „Untertitel“ heraussuchen.
Allgemein bietet der Film zudem einen hochinteressanten Blick auf Asien, auf den Lebensalltag in Japan, auf das Völker- und Sprachgemisch, auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die zumindest im Kontext der Kunst ein einziges Mal kein Hindernis zu sein scheinen. Man spricht wie selbstverständlich Japanisch, Koreanisch oder Mandarin als handele es sich um einen sehr eng zusammengerückten Kulturkreis ohne profunde Verständnisschwierigkeiten. Wenn das doch nur so wäre. Wir sind auf jeden Fall sehr viel mit dem Wagen unterwegs, erleben städtische und ländliche Gegenden, Autobahnwüsten und schöne Küstenlandschaften, haben zusammen mit Herrn Kafuku, der diese langen Fahrten braucht und liebt, Zeit zum Durchatmen und Nachdenken.
Alles in allem ein ganz großartiger Film aus Japan mit großartigen Schauspielern und einer Art von Sensibilität, die dem Kino zumeist gewöhnlich abgeht. Wie schön, dass es auch so geht und auch solche Filme wenigstens hier und da noch den Weg zu uns finden… (28.12.)