Lieber Thomas von Andreas Kleinert. BRD, 2021. Albrecht Schuch, Jella Haase, Jörg Schüttauf, Anja Schneider, Joel Basmann, Ioana Jacob, Paula Hans, Emma Bading, Adrian Julius Tillmann

   Es gibt Filme (nicht viele, aber doch einige), die lassen zweieinhalb Stunden wie nichts vergehen. Das ist Andreas Kleinert mit seiner Thomas-Brasch-Biographie leider nicht gelungen. Ich jedenfalls habe die Zeit als ziemlich lang empfunden, vor allem nach hinten raus, dann nämlich, als in mir der Wunsch aufkam, der Film hätte doch einfach an dem Moment enden können, da Thomas und seine Katharina die DDR verlassen und ins kapitalistische Feindesland übersiedeln, diesmal sogar mit ausdrücklicher Unterstützung des Regimes, das den unbequemen Geist schlicht und einfach loswerden wollte. Ich hätte die beiden gern bis über die Grenze nach West-Berlin begleitet und sie dort dann verlassen, denn alles Wesentliche ist bis dorthin schon gesagt.

   Bis dahin ist der Film einfach toll, ein sehr gelungenes Personen-, Familien- und Zeitporträt, sperrig, poetisch, unorthodox. Aufwachsen in den 50er Jahren in der damals noch jungen Republik, in der Familie eines eifrigen Karrieristen, der so gut wie alles opfern würde für seine Karriere, der sogar, das bleibt zumindest offen im Raum stehen, den eigenen Sohn verrät, weil der ihm mit seinen Plakat- und Protestaktionen Schande macht und sein Fortkommen und behindern droht. Die Vater-Sohn-Beziehung bleibt eine Konstante dieser Jahre, von den ersten Szenen, in denen der Vater den Zehnjährigen in einer Kadettenanstalt abliefert, eine jener berüchtigten DDR-Erziehungsstätten, wo junge Menschen zu aufrechten Sozialisten herangezogen bzw. auf das passende Maß zurechtgestutzt werden sollten, bis hin zu jenen späten Szenen im Osten, da Horst Brasch sich kalt und verächtlich und auch hilflos von seinem Ältesten abwendet, ihm nicht mehr in die Augen sehen, sich auch nicht mehr mit ihm auseinandersetzen kann. Dazwischen die Mutter, zerrissen zwischen den beiden, aber eben auch nie richtig auf Thomas‘ Seite, und genau das verstärkt sein Gefühl der Nichtzugehörigkeit, von dem er in seinen Gedichten, aus den hier häufiger zitiert wird, schreibt. Nirgendwo fühlt er sich heimisch, immer auf dem Weg von hier nach dort, ein Rastloser, ein Getriebener, ein notorisch unruhiger, rebellischer Geist. In diesen frühen DDR-Szenen ist Albrecht Schuch am stärksten, verkörpert den vitalen, energiegeladenen und auch ein wenig selbstzerstörerischen Provokateur mit bestechender Dynamik und Eindringlichkeit. Der Mann konsumiert Frauen im Dutzend billiger, schläft sich durch die halbe alternative Ost-Berliner Kulturszene, bis er endlich bei seiner Katharina Rast und Ruhe findet. Er verfasst unentwegt unkonventionelle Lyrik, kämpft ständig um Anerkennung, aber eben nie um jeden Preis, und er weiß, dass er das, was er ausdrücken möchte, niemals in der DDR publizieren kann, dass er auch den Film, von dem er lang schon träumt, hier niemals wird inszenieren können. Er ist eigentlich überzeugter DDR-Bürger, aber eben auch nicht um jeden Preis, und als er merkt, dass gerade die Freiheit, der ersehnt und fordert, in seinem Land nicht zu haben ist, wird er früher oder später vor eine Entscheidung gestellt, die umso schwerer fällt, als ihm der Konsumkapitalismus des Westens von jeher höchst suspekt ist. Lieber würde er in Welt, in die er eigentlich hineingehört, von Grund auf verändern, doch unweigerlich stößt er wie alle anderen, die dies versucht haben, auf Mauern und Repressionen.

   Kleinert schafft in dieser eindrucksvollen ersten Hälfte eine fulminante Montage von Begegnungen, Ereignissen, auch Träumen, die einen vagen Blick in seelische Untiefen vermitteln. Der Heimatlose, den die Angst vor Einsamkeit in all die vielen Abenteuer treibt, der unausgetragene Konflikt mit dem Vater, schließlich die Trennung von Zuhause, die bei alledem niemals ganz überzeugt und freiwillig erfolgt, eher den äußeren und inneren Zwängen geschuldet bleibt. Starke Momente, wie beispielsweise der Traum des jungen Thomas von sich selbst in einer völlig leeren, unbehausten Welt, der viel später noch einmal wiederkehren wird. Kleinert ist nahe dran, gibt aber niemals vor, alles zu wissen oder alles preisgeben zu wollen, wie dem auch sei, auf jeden Fall wirkt dieser erste Teil wie aus einem Guss, enorm unterhaltsam, bildstark und immer sehr interessant.

 

   Und Letzteres vermag ich über den zweiten Teil, den Exil-Teil, wenn man so will, nicht mehr zu sagen. Die Figur des Thomas Brasch geht mir irgendwie verloren, vielleicht, weil er selbst ein wenig verloren geht im internationalen Kulturbetrieb, den Kleinert zudem recht klischeehaft und lieblos schildert, wie ich finde, als eine endlose Abfolge von Jet-Set-Partys, auf denen jemand wie Brasch logischerweise ein Fremdkörper bleiben muss. Zwischen Berlin West, New York City und Cannes bewegen wir uns nun, doch das Gefühl für das Milieu, die Schauplätze und die Menschen ist dahin, die Erzählung wird fragmentarisch, flüchtig, und mit zunehmender Dauer sanken meine Anteilnahme und mein Interesse bis kurz vor den Nullpunkt. So präzise Kleinert seinen Brasch zuvor in Ost-Berlin verortet hat, so vage und beliebig wirkt die Szenenfolge nun, über den Künstler im Exil erfahren wir so gut wie nichts mehr und sein Umfeld gibt mir überhaupt keine Vorstellung davon, unter welchen Umständen er immerhin fünfundzwanzig Jahre im Westen lebte und was er darüber dachte, was er empfand. Die Dramaturgie geht vollends flöten, und so werden  eben auch einhundertfünfzig Minuten auf Dauer zur Geduldsprobe. Schade, sehr schade, dass nach dem tollen ersten Teil ein unverhältnismäßig schwacher zweiter folgt, der den Gesamteindruck halbwegs zunichte macht. Es hätte ein Meisterstück eines einst sehr vielversprechenden (dann leider im Tatort-Einerlei versackten) Regisseurs werden können – es ist nur ein halbes geworden, aber vielleicht muss man nur rechtzeitig den Kinosaal verlassen, und alles ist gut. ˜˜˜» (17.11.)