Es esmu šeit (Mellow Mud) von Renārs Vimba. Lettland, 2016. Elīna Vaska, Andžejs Jānis Lilientāls, Edgars Samītis, Zane Jančevska, Ruta Birgere
Raya ist siebzehn. Der Vater ist tot, die Mutter nach London abgehauen, und nun lebt sie mit dem jüngeren Bruder Robis und der ruppigen Oma auf dem ärmlichen Hof der Familie. Eine Dame vom Sozialamt in der Stadt wacht aufmerksam über sie, und als die Oma eines Tages tot in der Küche liegt, weiß Raya sofort, dass die Dame vom Amt davon nichts erfahren darf, denn sonst würden ihr Bruder und sie augenblicklich in irgendeinem Heim landen. Also wird Oma kurzerhand irgendwo im draußen Sumpf verbuddelt und Robis eindringlich klargemacht, dass er dichthalten muss, wenn er nicht von der großen Schwester getrennt werden will. Die hat einen Plan, an den sie sich mit aller Verbissenheit klammert: Sie will die Mutter in London finden und sie dazu bewegen, wieder nach Hause zu kommen. Zu diesem Zweck überwindet sie sogar ihre notorische Aversion gegen die Schule und meldet sich für einen Englischwettbewerb, dessen Sieger mit einem Flug nach London belohnt werden soll. Sie ist klug und zielstrebig, verführt auch noch den smarten Englischlehrer und verliebt sich scheinbar etwas ernsthafter in ihn, vor allem aber bringt sie ihn dazu, bei der zu Recht argwöhnischen Rektorin ein gutes Wort für sie einzulegen, weswegen sie tatsächlich am Wettbewerb teilnehmen darf. Während sie sich ganz ihrer Liebesaffäre und den Vorbereitungen zur Prüfung widmet, gerät Robis ein wenig aus dem Blickfeld, und das endet beinahe fatal, denn er zieht mit seinen gleichaltrigen Kumpels um die Häuser und baut jede Menge Mist. Eines Tages ist die Polizei zur Stelle, und Robis landet in einem Heim, und die Dame vom Amt mutmaßt, dass mit der Oma etwas nicht stimmt, und dann kommt doch noch alles raus. Raya will mit dem Lehrer nach London, nachdem sie den ersehnten Preis gewonnen hat, doch der kneift nach Männerart den Schwanz ein, und sie zieht alleine los. Sie findet die Mutter tatsächlich, doch hat die mittlerweile eine neue Familie, ein neues Kind, und alles, was sie für ihre Tochter tun will, ist ihr ein Geldbündel in die Hand zu drücken und um Verzeihung zu bitten. Verzweifelt kehrt Raya in die Heimat zurück, und die Dame vom Amt verhindert, dass sie irgendwie für Omas Tod zur Verantwortung gezogen wird und verhilft ihr damit zu einem Neuanfang. Sie besucht Robis im Heim, und vielleicht gibt’s für die beiden doch eine Zukunft zusammen.
Ein wirklich toller, beeindruckender, wunderbar gespielter und inszenierter Film, der es irgendwie schafft, niemals vollkommen niederdrückend und aussichtslos zu werden, obwohl doch alles dafür zu sprechen scheint: Das triste, postkommunistische Milieu mit dem titelgebenden, sprichwörtlichen, allgegenwärtigen Schlamm gibt kaum Anlass zur Hoffnung für Raya, und dennoch kämpft sie zäh und verbissen einen aussichtslosen Kampf und vergisst um ein Haar, wo eigentlich ihre Verantwortung liegt, wobei sie mit ihren siebzehn natürlich kaum in der Lage ist, auf den halbwüchsigen und ziemlich entwurzelten Bruder achtzugeben, wo sie doch selbst ein paar Themen hat, die ihre gesamte Kraft und Aufmerksamkeit beanspruchen. Dementsprechend wird hier auch zu keiner Zeit ein Urteil gesprochen, nicht über Raya, natürlich auch nicht über den kleinen Robis, der seiner Wut hilflos ausgeliefert ist, und auch nicht über die Mutter, die offensichtlich keine andere Möglichkeit für sich selbst sah, sich aus diesem deprimierenden Umfeld zu befreien, wobei ihr Blick, mit dem sie die lang nicht gesehene Tochter begrüßt, schon alles über ihre Gemütslage verrät. Zwischen dem grau-grünen Alltag, dem ewig spannungsgeladenen Leben in der Schule und den wenigen glücklichen Momenten mit dem erwachsenen Englischlehrer werden recht wenig Worte gemacht, aber es bedarf ihrer auch nicht, denn die sehr ausdrucksstarken Bilder erzählen schon die ganze Geschichte. Mal ist Raya eine selbstbewusste, verführerische junge Frau und mal ein trotziges und im Grunde recht orientierungsloses Mädchen, und zwischen diesen beiden gegensätzlichen Polen muss sie sich selbst erstmal zurechtfinden. Coming of age nennt sich sowas wohl, und davon erzählt „Mellow Mud“ einfühlsam, auch spröde und karg wie das Land und die Leute dort, und ich war wirklich äußerst erfreut darüber, mal was aus dem Baltikum zu sehen, was hierzulande so etwas wie eine unerreichbar ferne Galaxie ist, denn wann bekommen wir schon mal einen Film aus dieser Ecke Europas zu Gesicht… (Disc, 21.6.)