Aftersun von Charlotte Wells. England, 2022. Paul Mescal, Frankie Corio, Celia Rowlson-Hall

   Die erwachsene Sophie erinnert sich als junge Frau: Ein Sommerurlaub in der Türkei, sie als Elfjährige mit ihrem Dad Calum, der vor Ort einunddreißig werden würde. Ein paar Pannen beim Einchecken und mit dem Hotelzimmer, baden, sonnen, chillen am Pool, ein paar Ausflüge, ein paar Events abends in der Anlage, ein ungefähr gleichaltriger Typ, der sich zaghaft an sie ranschmeißt, ein Tauchkurs als Highlight, dann auch mal ein Streit, weil Dad keinen Bock auf Karaoke hat und sie ihm aus Rache vorhält, er verspreche ihr laufend Dinge, die er sich gar nicht leisten könne. Eine getrennte, unsortierte Nacht, danach aber wieder die Versöhnung und schließlich der liebevolle Abschied am Flughafen – sie fliegt heim zur Mama nach Edinburgh, er bleibt in London.

   Ein bemerkenswerter Film, der viele seiner Geheimnisse partout nicht preiszugeben gedenkt, der mir vielmehr aus vielen kleinen Einzelheiten eine Art Puzzle anbietet, aus dem ich mir am Schluss ein ungefähres Bild zusammenbasteln kann, dieses Bild jedoch ist in keiner Weise vollständig oder auch nur zuverlässig. Vielleicht geht es der erwachsenen Sophie ganz ähnlich, denn auch sie scheint sich erinnern zu wollen (ist ihr Dad am Ende schon gestorben?), und alles, woraus sie zurückgreifen kann, sind ihre höchst subjektiven Erinnerungen und dazu ein paar Videos und Schnappschüsse, die aber sämtlich nur die Sicht eines elfjährigen Mädchens wiedergeben, das längst nicht alles begreift, was es hört und sieht. Was erfahren wir über Calum? Ein sehr junger Vater, die Beziehung zur Mutter hat nicht funktioniert, dann ist er weg aus Edinburgh, wo er sich sowieso niemals heimisch fühlte, wie er Sophie eines Abends im Urlaub erzählt. Eine offenbar desolate Familie, jedenfalls geht das aus einer kurzen Episode hervor, die er seiner Tochter ebenfalls erzählt. Eine sehr wacklige berufliche Situation, ein neues „Projekt“ zusammen mit einem Kumpel, doch aus Sophies oben erwähnter Bemerkung lässt sich ableiten, dass schon einige Projekte zuvor in die Binsen gegangen sein müssen. Eine wilde Vergangenheit mit Drogen, Partys in allem, was dazugehört. Aber trotzdem natürlich ein toller Dad, zu dem die Tochter aufschaut und den sie von Herzen liebt, auch wenn sich die Pubertät mit großen Schritten nähert, weshalb ihr manche seiner Marotten mittlerweile eher peinlich werden und sie gar kein Problem hat, ein bisschen auf eigene Faust loszuziehen. So hängt sie sich zum Beispiel an eine Teenie-Clique, die schon deutlich sexueller unterwegs ist und deren merkwürdiges Verhalten ihr auch zum großen Teil fremd bleibt, was sie aber wiederum nicht davon abhält, mit dem Bürschchen von oben erste Küsse auszutauschen.

   Mit der gleichen beiläufigen Präzision, mit der Charlotte Wells all diese vielen kleinen Informationen in Sophies Urlaubserinnerungen einflicht, teilt sie uns noch ganz andere Dinge über Calum mit, die der Tochter damals zwangsläufig noch entgehen müssen, die ich als Zuschauer aber zu dem Bild addiere, das laufend komplettiert wird. Irgendetwas ist mit Calum los, aber was? Ein leerer, verlorener, trauriger Blick zwischendurch, ein heftiger unerklärlicher Weinkrampf eines Abends auf dem Bett, eine nächtliche Szene, die uns glauben macht, er wolle sich im Meer ertränken, eine lädierte Schulter, ein wilder Tanz im Stroboskoplicht, einige Momente mit homosexuellen Untertönen. Vieles scheint denkbar und möglich als Erklärung zu sein, doch nichts wird konkret, bis zuletzt erfahren wir nicht genau, was Calum belastet. Tatsache ist aber, dass sich langsam aber sicher eine gewisse Melancholie über die Geschichte breitet auch über die sonnigen, unbeschwerten Bilder, und wie Buch und Regie diese verschiedenen Elemente zusammengeführt haben, das ist schon klasse. Wir hören nie auf, Calum aus der Perspektive seiner Tochter zu sehen, doch sehen wir als Erwachsene eben andere Dinge als die Elfjährige, die zwar ein gutes Gespür für seine Laune hat, aber natürlich nie so ganz begreifen kann, was ihn bewegt, er bleibt ihr in dieser Hinsicht genauso fremd wie uns.

 

   Ich war erst nicht so ganz sicher, ob ich zufrieden damit sein soll, dass die Geschichte so offen bleibt, doch beim nachträglichen Überdenken finde ich dann doch, dass der Film seine Idee sehr konsequent und eindrucksvoll umsetzt, getragen von zwei ganz tollen Schauspielern und geschickt arrangierten Bildern zwischen Amateurvideo und erzählter Handlung. Auf jeden Fall ein in vieler Hinsicht sehr ungewöhnlicher und deshalb auch so interessanter Film zum Jahresausklang, und obwohl hierzulande gerade trübster Winter herrscht, kommt die mediterrane Sommeratmosphäre wunderbar rüber. ˜˜˜˜» (28.12.)