Corsage von Marie Kreutzer. Österreich/BRD/Frankreich/Luxemburg, 2021. Vicky Krieps, Katharina Lorenz, Florian Teichtmeister, Aaron Friesz, Manuel Rubey, Colin Morgan, Jeanne Werner, Finnegan Oldfield

   Die Sissi ist 40 geworden im Jahr 1877 und damit nach damaligen Verhältnissen das Verfallsdatum der Durchschnittsfrau erreicht, und genau so sagt ihr das auch der Franzl eines Tages. Die Sissi will aber noch nicht alt sein, und obwohl ihr der alltägliche Rummel ums Königshaus längst total zum Hals raushängt, will sie weiterhin schön bleiben. Dafür hungert sie, befiehlt ihren Hofdamen, das Korsett mörderisch eng zu schnüren, pflegt Körper und Haare. Andererseits raucht sie Kette, gibt sich frustriert, gelangweilt, egozentrisch, divenhaft, sehnt sich nach Körperlichkeit, nach einem Sinn im Leben außerhalb der Etikette. All dies kann der Franzl ihr nicht geben, denn der ist Herrscher voll und ganz, und so fristet sie ein tristes, eintöniges, leeres Dasein. Und weil auch ihre Kinder sie ständig wieder in die Spur bringen und auch ihre Rolle erinnern wollen, ist sie rechtschaffen genervt von ihrer Familie, reist lieber rauf nach England, um vielleicht eine alte Liaison wieder aufflammen zu lassen - was allerdings misslingt – , lässt sich bei ihrem Cousin Ludwig II durch die dekadenten Tage treiben oder  frönt allgemein ihrer größten Leidenschaft, dem Reiten. Irgendwann jedoch beschließt sie offensichtlich, dieses Leben ganz hinter sich zu lassen. Sie schneidet ihre jahrzehntelang hingebungsvoll kultivierten Haare ab, organisiert ihrem Franzl eine Geliebte und schickt fortan ihre Hausdame Maria an ihrer Statt raus an die Front, verschleiert und mit ähnlich perfekter Wespentaille unter schmerzhaft gezurrter Corsage.

 

   Eine Art historische Fantasie, düster, zum Teil sarkastisch, vielleicht auch ein bisschen feministisch und natürlich auf jeden Fall ein Gegenentwurf zur Zuckerbäckersissi der Romy-Schneider-Ära. Autorin/Regisseurin Marie Kreutzer legt viel Wert auf eine ausgeklügelte Bildsprache (Judith Kaufmann leistet einmal mehr ganze Arbeit), und so erfreue ich mich an sehr ausdrucksvollen und atmosphärischen Szenen in morbiden, baufälligen Innenräumen (zum Thema Brüche weiter unten), die Sissis Beengtheit und Trostlosigkeit hautnahe erfahrbar machen, eine hermetische, leblose, lieblose Welt, in der nichts und niemand die Möglichkeit hat, sich ein einziges Mal frei und offen auszudrücken. Zuletzt sah ich so etwas im Film über Diana Spencer, und vielleicht ist diese Diagnose ja für alle Königs- und Fürsten- und sonstige Häuser gültig. Genau wie Lady Di, die Ikone des späten 20. Jahrhunderts, rennt auch Sissi, Ikone ihrer Zeit, wieder und wieder gegen Wände und reagiert darauf mit Verzweiflung, Trotz, Auflehnung, Selbstzerstörung. Ein paar Mal versucht sie, ihren Franzl aus seiner Reserve zu locken, oder zu ihrem Rudolph oder ihrer ungarischen Tochter Kontakt aufzunehmen, doch zum ersten sind die Regularien für das Leben bei Hof zu starr und zum zweiten ist die Sissi selbst nicht gerade die Empathie in Person und im Grunde viel zu stark in ihre eigene Verzweiflung verstrickt, um sich wirklich ihren Kindern widmen zu können. Vicky Krieps kriegt es perfekt hin, die vielen verschiedenen Facetten dieses schwierigen Charakters sichtbar zu machen, ohne die eine oder andere abzuschwächen, eine spröde, sperrige, widersprüchliche Persönlichkeit, die rein gar nichts mehr mit der geglätteten Version des 50er-Jahre-Universums zu tun hat. Außerdem hat Marie Kreutzer viele sehr amüsante Brüche in ihr Historiendrama eingebaut, und die verlocken mich fast dazu, den Film nochmal anschauen und dann genauer darauf achten zu wollen. Plötzlich steht dort ein Trecker im Bild, sieht man moderne Türen und Lichtschalter, eine modisch neue Brille, einen Putzeimer aus Plastik, ein beleuchtetes Fluchtwegzeichen. Dazu werden aus zeitgenössischen Instrumenten Songs der 1960er gespielt „As tears go by“ oder „Help me make it through the night“. Zum Ende hin wird’s dann überdeutlich: Sissi lässt Marie ein Tattoo stechen, so wie sie es auch hat, und zuletzt sieht man vier Frauen in Kostümen aus dem 19. Jahrhundert auf einem modernen Fährschiff über die Adria. Was genau damit beabsichtigt ist, weiß ich nicht mal sicher, es macht aber zunehmend Spaß, auf diese kleinen Details zu achten und es sabotiert auf jeden Fall (und vielleicht geht‘s ja auch darum) den Eindruck einer akkuraten, geschlossenen historischen Darstellung. Oder es soll den klassischen Kostümfilm ein wenig parodieren? Wie auch immer, der Film ist sehr gekonnt gemacht, in der Hauptrolle ausgezeichnet gespielt und bietet einen ziemlich eigenwilligen Blick auf eine Person, die sich die populäre Kunst bekanntlich schon auf verschiedenste Weise einverleibt hat. ˜˜˜˜ (10.7.)