Gūzen to sōzō (Das Glücksrad) von Ryūsuke Hamaguchi. Japan, 2021. Kotone Furokawa, Ayumu Nakajima, Hyunri, Katsuki Mori, Kiyohiko Shibukawa, Shoma Kai, Fusako Urabe, Aoba Kawai

   Apropos lange oder kurze zwei Stunden – diese hier erschienen mir wiederum überaus kurz, und obgleich fast nur gequatscht wird und so gut wie gar nichts passiert, auch recht kurzweilig und spannend. Es gibt ja Leute, die können das, Gespräche und Begegnungen so inszenieren, dass sie trotz einer aufs Minimum reduzierten Handlung irgendwie fesselnd sind und man gerne zuschaut. Eric Rohmer war beispielsweise so einer…

   …und genau an den musste ich in der ersten von drei Episoden sofort denken. Zwei Mädels im Taxi, die eine erzählt der anderen von einem Mann, den sie ganz frisch kennengelernt und mit dem sie einen, wie sie sagt magischen, wenn auch platonischen Abend verbracht hat. Die andere sucht daraufhin ihren Ex-Freund auf, der natürlich genau jener Mann ist, und versucht, ihn wieder rumzukriegen, vermutlich einfach so, um sich zu beweisen, dass sie es noch kann und weil sie vielleicht tief im Innern der Freundin das Glück missgönnt. Er ist natürlich dumm genug, wieder halbwegs anzubeißen,  kann sich scheinbar nicht zwischen den beiden Frauen entscheiden, und in einem Café kommt es zur Dreierbegegnung, die nun in zwei Versionen dargeboten wird: In der ersten steht die zweite Frau die Machtverhältnisse klar, zieht ihren Ex wieder zu sich rüber und vertreibt ihre Freundin. In der zweiten Version übt sie großmütig Verzicht, zieht sich zurück und überlässt die beiden ihrem neuen Glück.

   Die zweite Geschichte erzählt von einer Honigfalle, die sich etwas anders entwickelt als erwartet: Eine Frau will ihrem Lover (wie nennt man das in Neusprech - Freundschaft plus…?) helfen, sich bei seinem Hochschullehrer, zugleich einem renommierten Buchautor, zu rächen, doch statt ihn in den sozialen Medien bloßzustellen, lässt sie sich von einer sehr erotischen Passage aus seinem Roman mitreißen, die sie ihm sehr genüsslich vorträgt und sie sie offensichtlich animiert, weiter zu gehen, doch er bleibt zurückhaltend, und außerdem besteht er stets darauf, dass die Tür zu seinem Büro offenbleibt. Weil er von ihrer Stimme so begeistert ist, bietet sie ihm zu gewissen Konditionen an, den gesamten Text zu lesen und ihm die Datei zu schicken, doch begeht sie bei der Mailadresse am Ende einen folgenschweren Irrtum, und als sie ihren Ex-Lover Jahre später in der Bahn wiedersieht, hat sich ihr Leben leider in keine gute Richtung bewegt…

   Zuletzt die Geschichte einer kuriosen Begegnung. Zwei Frauen treffen sich auf einer Rolltreppe, und beide reagieren so, als seien sie alte Freundinnen, die sich jahrelang nicht gesehen haben. Erst später eröffnet die eine der anderen, dass sie sich getäuscht hat und sie sich tatsächlich überhaupt nie gekannt haben. Dennoch fühlen sie sich eng verbunden und in einem Rollenspiel erkunden sie weitere Variationen einer möglichen Verbindung.

 

   Das hört sich vielleicht etwas schräg und abstrakt an, doch gerade diese dritte Episode ist besonders faszinierend, weil plötzlich im Zusammenspiel dieser beiden einander eigentlich völlig fremden Frauen ganz viele neue Möglichkeiten aufscheinen, inklusive der Möglichkeit, dass die beiden sich vielleicht doch von früher kennen und mit ihren Identitäten ein wenig spielen. Eine zauberhafter, eher leichte und wie gesagt äußerst französisch anmutende erste Episode und die soeben beschriebene grandiose dritte klammern eine Mittelgeschichte, die vielleicht nicht ganz dieses Niveau hält, die ein paar äußerst delikate und erotische Momente hat, aber vor allem ein etwas zu ernüchterndes Ende, das die arme Frau als Opfer ihrer eigenen Ränkespiele sieht. Drei Frauengeschichten aus dem modernen Japan, aus dem Alltag, ganz reduziert in den filmischen Mitteln und dem Setting, total auf Dialoge und das Miteinander konzentriert, mit der typischen Mischung aus Diskretion, Aufmerksamkeit und Empathie, diesmal angereichert mit einer guten Portion Frivolität und Humor und jener wunderbaren Atmosphäre von Melancholie in der dritten Episode, die viele der japanischen Meisterwerke auszeichnet. Liebe und Neid, Erinnerungen und Missverständnisse, unverbindlicher Sex und die Sehnsucht nach Nähe und Dauerhaftigkeit, zwischen diesen und noch anderen entgegengesetzten Polen finden die Gespräche und Szenen statt, sehr fein austariert, vielleicht nicht ganz so poetisch in Szene gesetzt wie in meinen absoluten Lieblingsjapanern (Ozu, Kore-eda, Kawase), aber dennoch hat Hamaguchi nach „Drive my car“ hier den zweiten außerordentlichen Film vorgelegt, und wie ich kürzlich las, gibt’s noch eine Menge anderer Werke von ihm, nur haben die (natürlich, möchte man fast sagen) bislang noch nicht den Weg in unsere Kinos gefunden. Da wäre noch etwas nachzuholen… ˜˜˜˜»  (5.9.)