Yī miǎo zhōng (Eine Sekunde) von Zhang Yimou. China, 2020. Zhang Yi, Liu Haocun, Fan Wei, Zhang Shaobo, Yu Ailei
Eine Sekunde ungefähr dauert der Auftritt des jungen Mädchens in der Wochenschau, ein ganz normaler Jubelbericht vom Triumph der maoistischen Landwirtschaft, und doch würde der Herr Zhang alles dafür tun, diese eine Sekunde wieder und wieder auf der großen Leinwand zu sehen, denn das Mädchen ist seine verlorene Tochter, und er verlässt das Umerziehungslager (die Rede ist von der Zeit der sogenannten „Kulturrevolution“ in den 60er und 70er Jahren), quält sich einmal quer durch die Wüste und nimmt jedwedes Leid auf sich, nur um diesen Moment einmal in Groß zu erleben. In die Quere kommt ihm das Mädchen Liu, das allein und ohne Eltern mit dem kleinen Bruder haust und irgendwie versucht, von Tag zu Tag zu überleben, und solch eine Filmdose ist ein begehrtes Gut, und außerdem lässt sich aus dem Zelluloid ein prima Lampenschirm herstellen. Zunächst treten die beiden gegeneinander an und versuchen, sich auszutricksen und die Filmdose für sich zu ergattern, doch bald müssen sie sich gegen etliche gemeine Gegner zusammenraufen, und nachdem Herr Zhang eine weitere zweijährige Zeit im Lager hinter sich gebracht hat, treffen sie sich als offenbar gefestigte und geläuterte Menschen wieder und suchen in der Wüste nach einem verlorenen Filmschnipsel, ein ebenso verzweifeltes wie vergebliches Unterfangen, zumindest einen Rest von Würde und Identität zu retten.
Fünfzehn Jahre ist es her, seit ich den letzten Zhang-Yimou-Film im Kino sah, nachdem der Mann seit den späten 80ern ein fester Bestandteil des hiesigen Arthouse-Repertoires geworden war. Danach kamen seine Filme erst gar nicht in die deutschen Kinos (jetzt auch nur im Original mit Untertiteln vor vermutlich weitgehend leerem Saal), oder er verschrieb sich eher unverbindlichen Großprojekten, die mich nicht so recht interessierten. Und auch diesmal habe ich ein paar Stunden Nachwirkzeit benötigt, um mir eine klarere Meinung über „Eine Sekunde“ bilden zu können, was zum einen daran liegt, dass mir die chinesische Geschichte (leider) ziemlich fremd ist und mir deshalb viele Anspielungen und Zusammenhänge womöglich verborgen bleiben, und zum anderen daran, dass Zhang immer wieder auf Momente und Emotionen setzt, die bei mir zwiespältige Reaktionen auslösen, aber das galt auch schon für all seine anderen jüngeren Filme.
Ich habe mich jedenfalls entschlossen, in diesem Film mehr zu sehen als nur eine liebevolle Hommage an das alte Kino der kleinen, einfachen Leute, an die Kraft und Magie der großen Leinwand und des guten alten Zelluloids. Solche Szenen gibt es zweifellos, doch könnte ich sie mit gutem Willen auch etwas anders verstehen, denn wir sehen hier eine Riesenmenge Menschen, die in ärmlichsten, kargen Verhältnissen in irgendwelchen abgeschiedenen Wüstensiedlungen leben, alles gleichgeschaltete Mao-Zombies in den unvermeidlichen blauen Uniformen, die sich von pathetischen Kriegsschnulzen und propagandistischer Wochenschau einlullen lassen, die wenigstens auf der Leinwand große Gefühle und strahlende Helden erleben wollen, wo ihr Lebensalltag doch in krassestem Gegensatz dazu steht. Ich sehe die vor Begeisterung glühenden, völlig absorbierten Gesichter, hören ihr Jubelgeschrei und ihre Gesänge, und kann nicht anders, als dies abzugleichen mit der Welt, in der sie leben müssen, eine Welt der totalen Indoktrination, der allgegenwärtigen Lautsprecher, der Unterdrückung jeglicher Individualität und Freiheit, vor allem auch eine Welt großer Armut. Herr Zhang und das Mädchen Liu stehen für zwei von vielen Millionen Opfern der grauenhaften Kulturrevolution, sie sind verloren, einsam, entwurzelt, er durchläuft das Lagersystem für die sogenannte Umerziehung, sie kämpft elternlos tagtäglich ums Überleben, und indem Zhang Yimou diese beiden Elendsgestalten mit unverhohlener Solidarität in den Mittelpunkt seiner Erzählung stellt, gibt er schon mal ein deutliches politisches Statement ab. Dagegen setzt er beispielsweise die brutalen Prügelbrigaden, die ihren Terror willkürlich an scheinbaren Abweichlern austoben, oder Figuren wie den Kino-Onkel, der sich nach außen als systemkonformer Mitläufer gibt, dem verfolgten Herrn Zhang dann aber doch das besagte Filmschnipselchen mit dem Bild seiner Tochter zusteckt, bevor er abtransportiert wird.
Auf diese Weise setzt Zhang durchaus Akzente, auch wenn sein Film im Ganzen betrachtet ganz sicher nicht die große Abrechnung mit der Kulturrevolution ist. Dies ist auch im China von heute nach wie vor unmöglich, wie das peinliche Theater um die unter fadenscheinigster Begründung zurückgezogene Teilnahme an der Berlinale 2019 zeigt. Ich persönlich bin wahrscheinlich so gestrickt, dass ich am liebsten eine klare Aussage hätte (egal, ob ich ihr zustimme oder nicht), und das bietet mir dieser Film sicher nicht, dafür jede Menge kleiner, eindrucksvoller Momente, in denen durchaus etwas über die Menschen in dieser furchtbaren Zeit gesagt wird. Dazwischen zerfasert die Geschichte auch immer mal wieder, sodass zwischen Zeitgeschichte, Kinonostalgie und Melodrama kein rundes Ganzes entstanden ist, aber das mit dem „runden Ganzen“ ist wohl auch eher mein Problem – und die Bilder aus der Wüste sind natürlich grandios… (5.8.)