Maixabel von Icíar Bollaín. Spanien, 2021. Blanca Portillo, Luis Tosar, Urko Olazabal, María Cerezuela, Tamara Canosa, Arantxa Aranguren, Mikel Bustamente, Bruno Sevilla

   In seltener Einigkeit schritten mein ewiger Mittstreiter und ich durchs Treppenhaus hinab: Dies ist ohne Frage einer der Filme des Jahres, wenn nicht gar der Film des Jahres. Selten nur sieht man solch einen Film, der sein starkes Anliegen in all seiner Komplexität derartig überzeugend und in jeder Hinsicht glaubhaft und authentisch vertritt, und dieses Anliegen ist ganz unabhängig von der desaströsen aktuellen Lage auch zu jeder anderen Zeit extrem wichtig und relevant. Ein Anliegen, das, obwohl es durchaus um die ganz großen Themen geht, in aller Ruhe, fast Stille behandelt wird, von einer Regisseurin, die diesmal einfach alles richtig gemacht hat, nachdem ich zu ihrem letzten Film (aber das ist auch schon eine Ewigkeit her) keinen ganz so direkten Zugang gefunden hatte.

   Es geht um Terror, um willkürliche, fürchterliche Gewalt, um Täter und Opfer, um Wut und Verzweiflung, um Reue und Umkehr und vor allem um die Frage, ob Täter und Opfer einen Weg zueinander finden können, ob dies überhaupt gewollt ist und wie es dann vonstatten gehen kann, welche äußeren und vor allem inneren Bewegungen dazu notwendig sind und wieviel Kraft sie erfordern.

   Maixabel verliert ihren Mann bei einem Mordanschlag der ETA. Zwei Männer stürmen in die Bar, erschießen Juán Mari, ein dritter fährt den Fluchtwagen, und die drei entkommen zunächst. Vor allem die Tochter Marí bricht vollkommen zusammen, kann den Verlust des geliebten Vaters nicht überwinden, und Maixabel empfindet neben ihrer großen Trauer vor allem Wut über die Dummheit der Terroristen, denn ihr Mann war immer jemand, der für die Verständigung, den Dialog einstand, der als überzeugter Baske die gleichen Ziele hatten wie die Extremisten, nur eben andere Methoden anwenden wollte. Sie erlebt an ihrer Tochter, wie schlimm und lähmend sich die Trauer auswirken kann und entschließt sich, einen anderen Weg zu gehen. Sie gründet eine Organisation für die Opfer des Terrors und sucht zugleich den kontakt zu den Mördern ihres Mannes. Denn zwei von ihnen, sind mittlerweile seit längerer Zeit in Haft, der Fahrer und einer der beiden aus der Bar, aber nicht der, der geschossen hat. Sie beantragt Besuchsrecht, zunächst zum Unverständnis ihrer Tochter, und natürlich werden auch die Häftlinge äußerst misstrauisch beäugt: Sie haben sich mittlerweile vom Terror losgesagt und sich damit viele Feinde gemacht, sowohl im Gefängnis als auch außerhalb. Erst als die ETA 2011 den Waffenstillstand verkündet, legt sich diese Front ein wenig, doch wissen die beiden genau, welches Risiko sie eingehen, als sie Maixabels Besuchen zustimmen, zumal sie sich anfangs gar nicht einig sind. Zunächst erklärt sich nur Luis bereit, Maixabel zu treffen, wofür er von Ibon heftig angegangen wird, bevor Ibon es sich noch einmal überlegt und auch diesen Schritt macht, sogar noch viel weiter geht und engeren kontakt zu der Familie seines Opfers sucht. Am Schluss sieht man ihn bei einer Gedenkfeier für Juán Mari und die anderen Opfer. Er kniet und legt Blumen ab, doch in den Blicken der anderen sieht man deutlich, dass es noch ein sehr langer Weg bis zu irgendeiner Form von Versöhnung sein wird. Ein solcher Film könnte übrigens genauso gut aus Nordirland kommen…

 

   Icíar Bollaín folgt dem Beispiel Juán Maris – auch sie setzt ganz auf Dialog und Begegnung, reduziert die Handlung auf das Nötigste und widmet sich ganz den Menschen und dem Raum zwischen ihnen und um sie herum, ob im Gefängnis mit Ibon und Luis oder in der Welt draußen mit Maixabel und ihren Lieben. Bis auf die letzte sind alle Außenszenen eigentlich gar nicht nötig, ein reines Kammerspiel hätte es auch getan, denn die langen Dialogsequenzen sind so großartig gespielt und geschrieben und inszeniert, dass sie den Film tragen, seine Essenz ausmachen. Nur braucht es zwischendurch vielleicht dann doch mal einen kurzen öffnenden Blick nach draußen, um die Spannung ein wenig zu lindern, denn die Intensität, die Eindringlichkeit der Begegnungen von Maixabel, Ibon, Luis oder María ist so enorm, jedenfalls habe ich es so empfunden, dass ich danach immer ein wenig nach Luft geschnappt habe und eine kleine Pause bis zum nächsten Duett als sehr wohltuend sah. Es ist eine große Kunst, diese Szenen so zu gestalten, dass man ihnen atemlos folgt, dass man an den Gesichtern und ihren Äußerungen hängt und wirklich gespannt ist, ob eine Annäherung gelingt, ob beide Seiten ihre Trauer respektive ihre Schuld überwinden können. Natürlich ist spätestens im Gefängnis die Grenze zwischen Täter und Opfer stark verwischt. Viele ehemalige Kämpfer haben viel zu spät erkannt, dass sie nur benutzt wurden von rücksichtslosen, machtgierigen Dummköpfen und haben sich verbittert abgewandt vom Kampf. Nicht alle natürlich, einige sondern noch immer die gleichen Parolen ab, wollen von ihrem Fanatismus, der immerhin ihr ganzer Lebensinhalt ist, nicht ablassen. Männer wie Ibon oder Luis sind imstande, dies zu reflektieren, ihren Werdegang zu schildern, ihren furchtbaren Irrtum einzugestehen, und Bollaín gesteht ihnen diesen Moment der Größe zu und teilt uns dies auch mit, so wie auch Maixabel aus der tiefen und scheinbar völlig ehrlichen Reue der beiden Mörder Hoffnung schöpft für sich und die Zukunft, und vor allem auch eine Befreiung spürt, denn sie hat eine Erklärung bekommen, hat die Möglichkeit bekommen, die Sichtweise der Mörder kennenzulernen  und damit den Alpdruck, der seit Juáns Tod auf ihr gelastet hat, ein Stück weit abzuschütteln. Diese Szene ist besonders eindrucksvoll, doch sie ist nur eine von vielen vielen eindrucksvollen Momenten in einem Film, der so viele Gedanken und Emotionen freisetzt, der ein Zeichen der Hoffnung setzt gegen Hass und Fanatismus, und der mir als Zuschauer bei aller Intensität Luft und Raum zum Atmen und Mitdenken lässt. Das ist ganz, ganz großes Kino, und wenn in diesem Jahr noch ein Film kommen und diesen hier überflügeln will, dann wird der sich höllisch anstrengen müssen…  ˜˜˜˜˜» (31.5.)