Mittagsstunde von Lars Jessen. BRD, 2022. Charley Hübner, Peter Franke, Hildegard Schmal, Gro Svantje Kolhof, Julika Jenkins, Rainer Bock, Gabriela Maria Schmeide, Nicki von Tempelhoff, Jan Georg Schütte, Michael Lott, Sebastian Fräsdorf, Dieter Schaad

   Ein echter Glücksfall einer Literaturverfilmung, könnte man wohl sagen. Lars Jessen hat aus dem fabelhaften zweiten Roman von Dörte Hansen einen ebenso fabelhaften Film gemacht, der die Substanz seiner Vorlage so geschickt überträgt, dass er trotzdem dem Kino- oder meinetwegen auch TV-Format verpflichtet bleibt, ohne dabei in irgendeiner Form Einbußen zu erleiden, und das hat man wirklich nicht häufig. Drehbuch und Regie arbeiten wirklich perfekt zusammen, kondensieren das Wichtigste aus dem Roman, sehr ökonomisch und konzentriert und verarbeiten das Kondensat zu einem Film, der auch eigenständig als solcher Bestand haben kann.

   Die Komplexität der Geschichte, die Vielstimmigkeit der Themen über mehrere Zeitebenen, sind dabei nicht ohne: Ein Mann bricht aus einem Leben in der Großstadt aus, in das er scheinbar nie so recht hineingehört hatte, bricht letztlich auch aus einer Dreiecksbeziehung aus, in die er ebenfalls nie so recht gepasst hat. Er fährt zurück aufs Land, dorthin, wo er geboren wurde und aufwuchs, in Verhältnissen, deren Ursprung er viel zu lange zu verdrängen versucht hat, um sich um die beiden alten Menschen zu kümmern, die er seine Eltern nennt, die aber vielmehr seine Großeltern sind und die kurz vor ihrer Gnadenhochzeit stehen, einem in der ganzen Gegend einmaligen Ereignis, wie der alte Sönke nicht müde wird zu betonen. In vielen Rückblenden erfahren wir bruchstückhaft von Leben in früheren Zeiten, in den 60ern und 70ern, von Ingwars labiler Mutter und ihren Eltern, die den jungen praktisch als ihren eigenen Sohn aufzogen. Vom Leben in einer kleinen, in jeder Hinsicht engen und archaischen Gesellschaft, die nun allerdings mehr und mehr vom Fortschritt verdrängt zu werden droht. Eine große Straße wird gebaut, das Wort „Flurbereinigung“ macht die Runde, ein großer alter Baum wird symbolträchtig gefällt, Geschäfte schließen, die alte Welt, in die Ingwar noch hineingeboren wurde, verschwindet mehr und mehr, und als er nun dorthin zurückkehrt, ist von dieser Welt nicht mehr sehr viel geblieben, mit Ausnahme einiger menschlicher Relikte und einiger Spuren in deren Köpfen. Ingwars Distanz zu dieser, seiner alten Welt schwindet mehr und mehr, er kämpft anfänglich noch dagegen an, doch löst er sich zugleich von seiner neuen Welt in Kiel, in der er sich zunehmend fremd vorkommt, auch im Zusammensein mit seinen beiden Mitbewohnern und Freunden. Wenn er sich dann am Ende nach Sönkes Tod ins Auto setzt und davonfährt, ist gar nicht klar, wohin die Reise geht, klar ist aber, dass er für sich einen neuen Platz, ein neues Leben suchen wird, das besser zu dem passt, was er erfahren und gelernt hat.

   Lars Jessen, von dem ich bislang noch keinen so guten Film gesehen habe, hat das mit sehr viel Gefühl für Atmosphäre, Situationen und Zwischenmenschlichen in Szene gesetzt. Das Tempo ist sehr gemessen, auch in den Rückblenden, die Szenen haben Raum zum Atmen, jegliche Form von Reizüberflutung wird konsequent vermieden. Obwohl in gut neunzig Minuten nicht jede Nebenfigur, nicht jede Nebenhandlung voll zur Geltung kommen, habe ich nie das Gefühl., dass hier zu hastig oder gar oberflächlich erzählt wird. Buch und Regie haben es vielmehr verstanden, die Essenz der Personen und ihrer Geschichten einzufangen und so gut und eng zu vernetzen, dass ein dichtes, eindrucksvoll kompaktes Gebilde entstanden ist, an dem sich der Film dennoch nicht übernimmt. Das ist schon eine besondere Qualität und in einer Literaturverfilmung absolut keine Selbstverständlichkeit. Hinzu kommt, dass die Schauspieler sämtlich hervorragend und auch auf knappem Raum imstande sind, ihren Figuren Profil und Charakter zu verleihen. Das fast durchweg zu hörende knochentrockene Plattdeutsch gibt dem Ganzen dann noch das entscheidende Quantum Lokalkolorit.

 

   Insgesamt ein starkes Kinostück vom platten Land  - beeindruckend und bewegend (aber nicht zu sehr darauf angelegt), und vor allem toll gespielt und gestaltet. Und auch eine überaus willkommene Abwechslung zum Krimieinerlei, das die hiesige Produktionslandschaft seit vielen Jahren dominiert. ˜˜˜˜˜ (4.10.)