Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush von Andreas Dresen. BRD/Frankreich, 2021. Meltem Kaptan, Alexander Scheer, Nazmi Kırık, Sevda Polat, Charly Hübner, Ramin Yazdani, Jeannette Spassova, Abdullah Emre Öztürk
Die wahre Geschichte von Rabiye, die mit Unterstützung des Rechtsanwalts Bernhard Docke über vier Jahre lang darum kämpft, dass ihrem Sohn Murat, der 2002 in Pakistan verhaftet und nach Guantanamo verschleppt wurde, wenigstens ein ordentlicher Gerichtsprozess ermöglicht wird, um ihn von dem Vorwurf, er sei ein Talibankrieger, freizusprechen. Über vier Jahre oder eintausendsiebenhundert Tage Leiden für Murat und ein ebenso langer, zermürbender Gang durch die Instanzen, durch die Behörden zwischen Ankara, Bremen und Washington, und was Docke zwischendurch immer schon mal mitbekommt, wird erst nach Murats Freilassung 2006 publik, dass nämlich die BRD-Regierung einer früheren Entlassung aktiv im Wege stand, und zwar aus politischem Kalkül, wie es so schön heißt.
Ein humanitärer, politischer und juristischer Skandal als Grundlage dieses neuen Films von Andreas Dresen, der daraus keinen lautstarken Anklagefilm gemacht hat, sondern einen ausgesprochen menschlichen Film, der nahe bei Rabiye bleibt, die all ihre Kraft und Energie verbraucht, am Schluss beinahe selbst zusammenbricht, bis es doch noch zum „guten“ Ende kommt. Sehr eindrucksvoll wird geschildert, wie die in politischen Dingen völlig unbedarfte, in vieler Hinsicht sehr naive türkische Mama mit der Post-9/11-Welt konfrontiert wird und zumindest einen groben Eindruck davon bekommt, was es heißt, sich jahrelang mit Bürokraten auseinandersetzen zu müssen. Selbst Bernhard, der sonst selbst ein bisschen in diese Kategorie zu gehören scheint, dabei aber immer ein höchst integrer Typ geblieben ist, scheint zwischenzeitlich immer mal den Glauben an die Sache zu verlieren, doch glücklicherweise gibt’s dann zum richtigen Zeitpunkt einen Impuls aus der Türkei oder den USA, wo sich eine wachsende Opposition gegen die menschenrechtswidrigen Praktiken in Guantanamo bildet und wo Rabiye und Bernhard neue Verbündete im Kampf gegen Windmühlen finden. Sehr geschickt erzählt Dresen zunächst fast ausschließlich aus Rabiyes Sicht und bringt den größeren politischen Rahmen erst nach und nach ein, und eigentlich trifft uns erst ziemlich zum Schluss mit voller Wucht die bittere Erkenntnis, welch schändliche Rolle die BRD in dieser Affäre gespielt hat, und genau dadurch wird die Erkenntnis nachwirken (zumindest für jemanden wie mich, der ich mich mit der Geschichte noch nicht beschäftigt hatte). Menschenrechte oder auch Gerechtigkeit im Sinne der Gesetze sind längst keine absoluten, unumstrittenen Werte mehr, sondern Gegenstand politischer Kalkulationen und Abwägungen. Die rot-grüne Regierung denkt nach: Ein Jahr nach den Anschlägen in New York hätte es womöglich wie ein falsches Signal nach innen wie nach außen gewirkt, sich um die Freilassung eines „Verdächtigen“ zu bemühen, also lässt man ihn lieber vier Jahres lang auf der Gefängnisinsel im total rechtsfreien Raum schmoren, den täglichen Torturen und der Willkür der hasserfüllten Aufseher ausgesetzt, und holt ihn erst nach Hause, als die Gesamtlage nicht mehr ganz so brisant ist. Wir müssen das verstehen: Ein einzelnes menschliches Schicksal muss sich diesen höheren Zielen selbstverständlich unterordnen, und Dresen lässt den Zorn über soviel Zynismus und Menschenverachtung langsam aber sicher in uns hochsteigen, ohne dafür besondere polemische Tricks bemühen zu müssen, und das ist einfach stark.
Zusammen mit den Bemühungen der beiden wahrhaft heroischen Protagonisten erschöpft sich leider auch die Dramaturgie im letzten Drittel ein wenig und so würde ich dem Film als einzige Schwäche anlasten, insgesamt ein wenig lang geraten zu sein, es sei denn, Dresen habe auf diese Art den schier endlosen Marsch durch die Instanzen filmisch nachvollziehbar machen wollen – aber das wiegt letztlich auch nicht schwer, denn auf der Habenseite finden sich deutlich gewichtigere Dinge, wie zum Beispiel die fulminante Performance der Meltem Kaptan in der Titelrolle, die Witz, Temperament, Trauer und Verzweiflung, unbändige Vitalität und Entschlossenheit brillant jongliert, und die mit Alexander Scheer in ungewohnt zurückhaltender Präsenz einen kongenialen Partner hat. Diesen beiden denkbar verschiedenen Verbündeten folge ich gern zwei Stunden lang in ihrem David-gegen-Goliath-Kampf, wohl wissend, dass von einem Happy End nach vier Jahren Guantanamo nicht die Rede sein kann, und wohl wissend, dass die Kernaussage auf der zweiten Schiene weit über dieses eine Schicksal hinaus auf viele andere weist, die vielleicht in ähnlicher Weise der menschenfernen Mentalität der Bürokraten zum Opfer gefallen sind. Vier lange Jahre nach „Gundermann“ hat Andreas Dresen wieder einen beeindruckenden Film gemacht, und ich hoffe doch, dass ich nicht wieder so lange auf den nächsten warten muss… » (4.5.)